Vertlib - © Foto: Getty Images / Sygma / Sophie Bassouls

Vladimir Vertlib: „Die Angst ist immer noch präsent“

19451960198020002020

Vladimir Vertlib erzählt die Verhältnisse an der Peripherie Europas und übt Kritik an der Macht der sozialen Medien. Ein Gespräch über sein neues Buch "Zebra im Krieg", den aktuellen Ukraine-Konflikt und das System Putin.

19451960198020002020

Vladimir Vertlib erzählt die Verhältnisse an der Peripherie Europas und übt Kritik an der Macht der sozialen Medien. Ein Gespräch über sein neues Buch "Zebra im Krieg", den aktuellen Ukraine-Konflikt und das System Putin.

Werbung
Werbung
Werbung

Ein Konflikt irgendwo an der östlichen Peripherie Europas, ein Blogger, der einen Rebellenchef auf rüdeste Weise beschimpft, eine militärisch volatile Situation in einer fiktiven Hafenstadt. Das sind die Zutaten zum Plot des jüngsten Romans von Vladimir Vertlib, „Zebra im Krieg“. Die Handlung beruht auf einer wahren Geschichte, die sich vor ein paar Jahren in der Ostukraine zugetragen hat. Man kann sie auf Youtube abrufen. „In meinem Roman habe ich die Stadt ans Meer verlegt und hatte dabei ein bisschen Odessa im Kopf. Aber es könnte auch Mariupol, Sewastopol oder Sotschi sein. Ich habe das bewusst verallgemeinert, weil ich kein Schlüsselbuch über den Ukraine-Konflikt oder das System Putin schreiben wollte“, so Vertlib im Gespräch. Vielmehr handle es sich um einen exemplarischen Fall für die Verhältnisse an der Peripherie Europas „und darüber hinaus auch um einen Spiegel für uns, für unsere Gesellschaft und unsere Zeit“.

Ein Blogger wird von einem siegreichen Rebellenführer vor laufender Kamera bedroht und gedemütigt. Das Video verbreitet sich in Windeseile im Netz. So weit die Fakten. Vertlib, der 1966 in Leningrad geborene österreichische Schriftsteller, lässt dann seine Fantasie walten und konfrontiert uns mit existenziellen Fragen und von jahrzehntelanger Diktatur geprägten Traumata. Klare Anspielungen auf die Schreckensherrschaft Stalins und den Zuckerbäckerstil von Amtsgebäuden verorten das Geschehen eindeutig in der postsowjetischen Welt. Nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 hat sich Vertlib auf russischen und ukrainischen Chatplattformen umgesehen, ohne selbst in die Diskussionen einzusteigen. Dort verkehren die Menschen in einem Umgangston miteinander, den der Schriftsteller aus Rücksicht auf zartbesaitete Leserinnen und Leser nicht zitiert sehen will: „Verglichen mit dem, was man dort lesen konnte, ist das, was wir heute in Österreich rund um die Coronakrise erleben, harmlos. Hier gehen die Leute vergleichsweise gesittet miteinander um.“

Intensive gesellschaftliche Dynamik

Kritik an den sozialen Medien war nicht von Anfang an intendiert. Doch: „Ich nehme mit Sorge wahr, wie uns die sozialen Medien korrumpieren, süchtig machen, unsere schlechten Charaktereigenschaften verstärken und wie wir uns selbst vorführen, weil das Medium uns dieses Forum bietet, in dem wir das, was wir sonst unter der dünnen Tünche der Zivilisation halten, herauslassen, unsere Gesprächspartner nur mehr als Profile oder Fotografien und nicht als reale Menschen wahrnehmen.“ Das führe zur Enthemmung und zu einer sehr intensiven gesellschaftlichen Dynamik, die Konflikte verschärfe. „Das kann man nicht nur in Osteuropa beobachten, sondern auch bei uns“, so der Autor.

Schnell wechseln die aufgehetzten Massen auch die Seite, wenn es politisch opportun ist. Für Vertlib ist das ein Zeichen, „wie kaputt solche Gesellschaften vor allem in Ost- und Ostmitteleuropa als Folge der langen kommunistischen Diktatur sind, wie misstrauisch die Menschen sind. Wie schnell sie über etwas reden oder nicht reden wollen, ihr Fähnchen in den Wind hängen, mitmarschieren mit den Machthabern, aber nicht wissen, wo und mit wem sie sich solidarisieren sollen. Das ist eine Folge der Urangst, die alle Gesellschaften Ostmitteleuropas beherrscht. Das Trauma der Diktatur hängt über all diesen Ländern. Auch bei den Kindern, den Nachgeborenen, auch bei mir.“ Seine Eltern haben als Kinder in der Blockade von Leningrad gehungert und als Heranwachsende den Terror der Stalin-Herrschaft erlebt. Das habe sie geprägt.

Ein Kind, das nicht in einem geborgenen Umfeld aufwachse, sondern erleben müsse, wie Menschen abgeholt, eingesperrt und getötet werden, könne kein Vertrauen entwickeln. Vor allem, wenn es die Angst und die Ohnmacht der Erwachsenen erlebe. „In der Generation meiner Eltern, die in der Stalinzeit aufgewachsen sind, entwickelte man sich oft zu Menschen ohne stabiles Fundament, ohne Grundvertrauen in die Welt. Das wirkt nach und wird über verschiedene Formen der Verdrängung und Projektion verarbeitet“, meint Vertlib.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung