
Achtsamkeit: Jedem seine Glocke
Das Prinzip der Achtsamkeit wurde aus asiatischen Klöstern in die moderne Lebenswelt übersetzt. Ursula Baatz beleuchtet einen komplexen Kulturtransfer in gigantischem Ausmaß.
Das Prinzip der Achtsamkeit wurde aus asiatischen Klöstern in die moderne Lebenswelt übersetzt. Ursula Baatz beleuchtet einen komplexen Kulturtransfer in gigantischem Ausmaß.
Ein Mann trägt eine Schale voll Öl auf dem Kopf. Seine heikle Aufgabe: Mit dieser Schale durch eine ausgelassene Menschenmenge zu gehen, ohne auch nur einen Tropfen Öl zu verschütten. Hinter ihm geht ein Mann mit Schwert. Dieser würde ihm sofort den Kopf abschlagen, wenn er die Aufgabe nicht meistern kann. Das ist ein Gleichnis für Achtsamkeit, gefunden im Pali-Kanon, der ältesten zusammenhängenden Sammlung buddhistischer Schriften. Die Botschaft ist klar: Es geht darum, sich mit existenzieller Ernsthaftigkeit in Geistesgegenwart zu üben.
Andere traditionelle Gleichnisse zielen auf die Sorgfalt und die nötige Unterscheidung zwischen ethisch heilsamen und unheilsamen Geisteszuständen: So wie wenn ein Chirurg mit einer Sonde eine Wunde untersucht; wenn ein Bauer den Boden pflügt, um die Saat vorzubereiten; oder wenn ein Wächter am Stadttor den unliebsamen Gästen den Zutritt verwehrt. Diese Gleichnisse spiegeln die Lebenswelt im Gangesbecken während der Eisenzeit wider – als die ersten Städte erblühten und wandernde Asketen wie der Buddha ihre spirituellen Lehren verbreiteten. Worauf es dabei ankommt, wurde zunächst mündlich in einer Reihe von leicht zu merkenden Bildern und Erzählungen weitergegeben.
Modernisierter Buddhismus
Zurück in die Gegenwart: Das Prinzip der Achtsamkeit ist wissenschaftlich evaluiert und therapeutisch hilfreich. Anstatt sich wie im alten Indien in die Einsamkeit zurückziehen, üben viele Menschen mitten im hektischen Alltag. Meditations-Apps verzeichnen Millionen von Nutzern und Nutzerinnen. Und „Achtsamkeit“ ist zum beliebten Schlagwort geworden; eine weltweit bekannte Ware, vermarktet von einer Milliarden-Dollar-Industrie. Sie ist eingekehrt in Schulen und Wellness-Zentren, in Banken und Manager-Seminare, in Büroetagen und Einfamilienhäuser. Und an diesem Boom scheiden sich längst die Geister: Manche sehen in Mindfulness die geistige Ressource eines tiefen sozialen Wandels; anderen hingegen gilt sie als perfide kapitalistische Machttechnik, als Kontrollinstrument einer neoliberalen „Psychopolitik“ (Byung-Chul Han).
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