7098763-1995_04_08.jpg
Digital In Arbeit

Gefährdung des Menschen

Werbung
Werbung
Werbung

Es ist noch nicht allzu lange her: Bei einem Treffen katholischer Publizisten aus Mitteleuropa in Brixen/Südtirol stellte der polnische Schriftsteller Andrzej Sczcypiorski ganz radikal die Frage nach Gott, der - wie Auschwitz gezeigt habe - sich nicht mehr erkennen lasse. Betroffen diskutierten wir auf der Heimfahrt diese schreckliche Erfahrung. Wo war Gott, als Auschwitz „passierte”?

Als Christen vermeinten wir eine Antwort zu haben: Er war mitten drinnen im tiefsten Leid der Millionen Opfer, unerkannt und unbemerkt, weil sich die Götter der Macht, des Hasses, des Überlegenheitswahns, des Nationalismus und alltäglicher „normaler” Brutalität der Köpfe und Herzen vieler bemächtigt hatten. Aber nützt die theologische Interpretation dieses von Planung und Ziel her schrecklichsten Ereignisses der Menschheitsgeschichte irgendje-mandem? Klingt sie nicht wie ein vergeblicher Versuch, Sinn im absoluten Widersinn zu entdecken?

Das unermeßliche Leiden, die Schreie der 1,6 Millionen zu Tode Gefolterten und Vergasten, zu 90 Prozent Juden, die nach eigener und christlicher Auffassung erstes „Symbol Gottes” sind, wird mit Hilfe des theologischen Verste-henshorizonts um nichts erklärlicher. In Auschwitz tritt uns der Mensch ohne Maske entgegen: der enthemmte, gewöhnliche, in Abhängigkeiten verhedderte, leichtgläubige Mensch, der sich um handfester Vorteile willen zur Bestie entwickelt; und der unendlich leidensfähige, geduldig ertragende Mensch, auf dessen stummen Aufschrei keine Antwort erfolgt. Unendliche Dummheit und leichte Verführbarkeit sind heute genauso Merkmale des Menschen, wie Wehr- und Hilflosigkeit.

Auch nach Auschwitz hat sich an der totalen Gefährdung des Menschen nichts geändert. Das „Niemals wieder” wurde oftmals widerlegt. Auschwitz kann uns diese Wahrheit dauernd vor Augen halten. Schaudern vor dem Terror genügt nicht. Wir müssen hellhörig bleiben und Unmenschlichkeit von Anfang an stoppen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung