Herzkönigin - © Foto: iStock/Whiteway

Nachhaltige Gesellschaft: Hartmut Rosas Gedanken zur Resonanz

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Zur Geburt einer nachhaltigen Gesellschaft aus dem Geiste der Musik. Gedanken nach Hartmut Rosas Begriff der Resonanz - zu einer Zeit, die in Krisen vorwärts drängt.

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Zur Geburt einer nachhaltigen Gesellschaft aus dem Geiste der Musik. Gedanken nach Hartmut Rosas Begriff der Resonanz - zu einer Zeit, die in Krisen vorwärts drängt.

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Der deutsche Soziologe Hartmut Rosa liebt Musik. Er hat seine Theorie der Lösung der Probleme der „Spätmoderne“ wohl daher bewusst am Begriff der „Resonanz“ verankert. Sie könnte der Schlüssel zu einer nachhaltigen Zukunft sein. Meyers Konversationslexikon (1905) erläutert „Resonanz“ als das Mit-Tönen eines Körpers beim Erklingen des ihm eigentümlichen Tones. Wird von zwei Saiten die eine angeschlagen, tönt die andere mit, wenn beide gleich gestimmt sind. Sie bleibt stumm, wenn sie in ihrer Stimmung auch nur wenig von jener abweicht.

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Die angeschlagene Saite sendet Schallwellen aus, um die ruhende in Bewegung zu setzen. Sind beide Saiten gleich gestimmt, erhält die Saite, im Begriff vorwärts zu gehen, einen Stoß nach vorwärts und, während sie zurückgeht, einen Stoß nach rückwärts. Die folgenden Stöße wirken so zur Verstärkung der Bewegung, die durch den ersten schwach eingeleitet worden ist. Die Saite gerät so in lebhafte Schwingungen. Ist dagegen die Schwingungszahl der ankommenden Welle verschieden, so geraten die späteren Stöße bald in Widerstreit mit dem leisen Erzittern. Sie heben deren Wirkung wieder auf. Die Saite bleibt in Ruhe.

In der Welt sein

So weit, so physikalisch. Rosa fasst den Begriff weiter: Jeder Mensch hat in seinem „In-der-Welt-Sein“ die Wahl zwischen Kontrolle und Einlassen auf das Unverfügbare. Wenn Sie in ein Fitnessstudio gehen, kontrollieren Sie ihren Fortschritt – wissen genau, welche Muskeln Sie mit welchem Gewicht trainiert haben. Die Geräte im Studio sind jedoch stumm und Sie mit Ihrem Training alleine. Bei einer Fußballpartie mit Kollegen wissen Sie nicht so recht, welche Muskeln genau trainiert wurden, aber es können schöne Ballwechsel entstehen. Der Unterschied: Kontrolle hier, lebendiges Miteinander da. Wenn einer Ihrer Mitspieler grade mies drauf ist, sind Sie womöglich mit einer üblen Partie konfrontiert: Kann passieren, der Erfolg einer gemeinsamen Sache ist für jeden einzelnen unverfügbar. Resonanz mit anderen hängt nicht nur von Ihrem eigenen Schwingen ab, sondern auch davon, ob es ein Mitschwingen gibt.

Auch andere Kunstformen kann man sich als Resonanzangebote vorstellen. Ein beglückendes Miteinander gibt es nicht nur mit anderen Menschen. Rosa bezeichnet die Wege des mit anderen Menschen und deren Kunst oder anderen Lebewesen, also der Natur In-Beziehung-Seins als Resonanzachsen. Der Arbeitsplatz kann eine solche sein, die Familie, die Hobbygruppe. Rosas Diagnose ist, dass immer mehr solche Achsen nicht mehr mitschwingen. Die Welt verstummt. Auch die Politik ist abgehoben, die Kommandobrücken antworten nicht mehr. Der umfassende Resonanzverlust ist präziser als sein verwandter Begriff „Entfremdung“. Resonanz ist der positiv besetzte Pol – das Gegenbild nicht nur zu Kontrolle, sondern auch zu Entfremdung. Und wo bleibt die Nachhaltigkeit?

Resonanz mit anderen hängt nicht nur von Ihrem eigenen Schwingen ab, sondern auch davon, ob es ein Mitschwingen Anderer gibt.

Kunst und Natur sind wichtige Resonanzachsen. Ich kann mir nicht vorstellen, mit einem Fitnessgerät eine Resonanzbeziehung zu haben, wohl aber mit einem Musikstück, einem Roman, einem Film. Wenn man sich einen Platz vorstellt, an dem man zur Ruhe kommt, wem fällt da nicht ein stiller See im Wald ein oder das Rauschen der Meeresbrandung? Wer kann sich nicht beglückt fühlen vom Vogelgezwitscher eines Junimorgens? Für manche ist die Natur so sehr ein resonantes Gegenüber, dass sie imstande sind, sie als von unsichtbaren Wesen bevölkert zu erleben. Kahlschläge, Müllhalden, Raffinerien oder Flugfelder sind aber wohl kaum resonant, nicht einmal Eisenbahnen.

Lewis Carroll, britischer Autor zweier Bücher mit der kleinen Alice als Hauptfigur, beschrieb 1871 im zweiten Band („Alice hinter den Spiegeln“) ein Phänomen, das zu Resonanzverlust führt. Alice trifft die Rote Königin und möchte sich mit ihr unterhalten, das aber ist nicht so einfach: „Los! Los!“, schrie die Königin. „Schneller! Schneller!“ Zuletzt sausten sie so schnell, dass sie beinahe dahinflogen und ihre Füße kaum mehr den Boden berührten. Doch plötzlich, als Alice wirklich nicht mehr konnte, hielten sie an; und Alice plumpste ganz erschöpft und schwindlig auf die Erde. Alice sah sich verblüfft um. „Aber – aber waren wir nicht die ganze Zeit unter dem Baum? Alles ist genau wie vorher.“ „Selbstverständlich“, sagte die Königin. „Was hast du denn gedacht?“ „Also… bei uns – in unserem Land“, Alice war noch ziemlich außer Atem, „kommt man woanders hin – ich meine, wenn man so lange so schnell läuft – wie wir eben.“ „Was für ein langsames Land“, erwiderte die Königin. „Bei uns, verstehst du, muss man laufen, was man kann, nur um auf der Stelle zu bleiben. Wenn du woanders hinwillst, musst du noch zweimal schneller rennen.“

Diese Geschichte ist als „Rote-Königin-Hypothese“ in der Biologie angekommen. Ihre Bedeutung als Zeitdiagnose scheint bislang nicht ausreichend gewürdigt. 1871 wurden in Großbritannien 119 Bahnhöfe eröffnet, die Jahre zuvor je über 100. Carroll blickt in ein sich beschleunigendes Land und beschreibt präzise den Effekt, den das auf die Einwohner hat: Hetze. Auch heute noch werden die Verkehrsmittel schneller, bis wir in Hochgeschwindigkeitszügen durch Tunnels rasen. Der Umsatz, die Innovation, alles muss schneller werden: „Just-in-time-production“ heißt das. Die automatischen Kassen in Supermarkt erlauben schnelleres Einkaufen, und wir ernähren uns laut Statistik zunehmend von „Fast Food“. Das alles erscheint uns so normal wie der Roten Königin das Rennen, nur um an der gleichen Stelle zu bleiben. Selbstoptimierung, etwa mit Aufputschmitteln oder Fitnessprogrammen, ist für viele der einzige Weg, die Hetzjagd auszuhalten.

Speed kills

Die Geschwindigkeit hat eine weitere Konsequenz. So beschreibt Ray Bradbury, Autor der Dystopie „Fahrenheit 451“ (1953), die Wahrnehmung aus einem schnellen Auto: „Manchmal glaube ich, die Fahrer wissen überhaupt nicht, was das ist, Gras, oder Blumen, weil sie nie langsam daran vorbeikommen. Wenn man einem Autofahrer etwas Grünverwischtes zeigte, würde er sagen: ‚Ja, das ist Gras.‘ Etwas Rötlichverwischtes? ‚Das ist ein Rosengarten.‘ Etwas Weißverwischtes bedeutet Häuser. Braunverwischtes Kühe (…).“

Selbstoptimierung etwa mit Aufputschmitteln oder Fitnessprogrammen ist für viele der einzige Weg, die Hetzjagd der Beschleunigung auszuhalten.

Die Welt ist grünverwischt und keine Wiese voller Rittersporn, Teufelskrallen oder Königskerzen. Die grünverwischte Welt ermöglicht keine Resonanz. Sie ist stumm. Das ist die Folge der Beschleunigung. Hartmut Rosa ging nicht zufällig von der Beschleunigung aus und entwickelte daraus die Resonanztheorie.

Woher aber resultiert die Beschleunigung, die scheinbar nur noch den Weg der Kontrolle zu beschreiten erlaubt? Aus der ungeheuren Menge an Sonnenenergie, die wir binnen kürzester Zeit verbrauchen. Nicht ohne Grund hat der Klimaforscher HansJörg Schellnhuber sein Buch zur Klimakrise „Selbstverbrennung“ genannt. Aber wieso Sonnenenergie? Fossile Energie, Erdöl, Erdgas, Kohle: Das alles ist von Lebewesen durch Photosynthese gespeicherte Sonnenenergie, geologisch verwandelt. Sonnenenergie, über Jahrmillionen von Jahren gesammelt, verbrennen wir innerhalb von weniger als 200 Jahren. Kein Wunder, dass wir so beschleunigt sind, dass wir aus allen Resonanzbeziehungen zu fallen drohen!

Die Wachstumslogik selbst ist eine Folge von Energieüberschuss. Sie war nicht „schon immer“ da. Philipp Lepenies hat in seinem Buch „Die Macht der einen Zahl“ (2013) die politische Geschichte des Brut toinlandsprodukts dargestellt. Das BIP ist ein Kind der beiden Weltkriege, seine Entwicklung angetrieben von der Frage, wie Krieg finanziert werden könne. Noch in den 1930er-Jahren existierten in England und den USA unterschiedliche Vorstellungen davon, wie sich wirtschaftliche Vorgänge in Zahlen abbilden ließen. In der Nachkriegszeit etablierten die USA mit aller politischen Macht im Westen das BIP als Standard. Zusammen mit der Idee des Wachstums gab diese Methode Hoffnung auf eine Zukunft unendlichen materiellen Wohlstands – und monopolisiert seither den Blick auf wirtschaftliche Zusammenhänge.

Auch Rosa geht es um die Wachstumslogik und um das, was sie anrichtet. In seinen Diagnosen weist er darauf hin, dass Psyche und Physis von der „Hamsterradlogik“ der Moderne überfordert sind. Das ist nicht einfach nur eine Folge von zu viel Arbeit, sondern entsteht durch die Abwesenheit eines Zielhorizonts: Das Ziel ist „immer mehr und immer schneller“ und damit ist es unerreichbar. Man könnte das mathematisch als „Paradoxon der ersten Ableitung“ bezeichnen. Auch das BIP muss wachsen, auch ihm ist ein unerreichbarer Zielhorizont eigen. Heute wachsen auch die Medieninhalte ständig, und die Aufmerksamkeit wird dadurch immer fragmentierter. Das ist ein weiterer Grund für das Verstummen der Resonanzachsen.

Resonanzverlust ist eine Folge des Übermaßes an Energie, die wir verwenden und verschwenden. Durch die fossil-energetische Beschleunigung wird die natürliche Welt grünverwischt, die soziale Welt zum „like“ auf Facebook oder Twitter. Wir vereinsamen und werden selbstzerstörerisch. Damit einher geht aber auch die materielle Zerstörung der Natur: Man bringt sie zum Verstummen.

Wenn es um Nachhaltigkeit geht, wird oft vom „Verzicht“ gesprochen. Nachhaltigkeit aber heißt: erneuerbare Energiequellen, insgesamt weniger Energie, damit auch weniger Zeug. Das heißt: weniger materielle Verschwendung, weniger Zerstörung, weniger Sucht, weniger Zivilisationskrankheiten. Das heißt: Frieden statt Krieg. Was daran ist ein Verzicht?

Aber was kann die oder der Einzelne dafür tun? Die „Systeme“ von Politik und Wirtschaft, denen wir uns so hilflos gegenübersehen, sind auf den Konsum angewiesen, das ist ihre Achillesferse. Werbung, (un)soziale Medien und das Verstummen der Resonanzachsen treiben Menschen dazu, sich in Konsumenten zu verwandeln. Wenn wir, statt Güter und Erlebnisse zu konsumieren, uns auf die Suche nach Resonanz machten, und statt an das BIP lieber an die Macht der Menschen und ihrer Phantasie glaubten, könnten wir der Konsumgesellschaft den Garaus machen – uns zurückverwandeln in resonante Menschen.

Nicht Verzicht, sondern Gewinn ist der Weg zur Nachhaltigkeit, Resonanzgewinn nämlich. Eine nachhaltige Gesellschaft wird aus dem Geist der von Menschen erdachten und von Menschen zum Klingen gebrachten Kunst geboren, aus beglückendem Sein in der Natur und nicht aus dem Geist der Maschinen. Resonanz ermöglichen, fördern, priorisieren, heißt: nachhaltig handeln. Die Zeit drängt, die Krisen sind dramatisch. Meine Einladung: Gehen Sie sofort den Weg des Resonanzgewinns, warten Sie nicht, bis es zu spät dafür ist. Der Weg wird Sie beglücken.

Die Autorin ist Umwelthistorikerin und wirkliches Mitglied der Öst. Akademie der Wissenschaften. Der Text basiert auf einem Vortrag, den sie am 18. Juni bei einem Fest für Gottfried von Einem in Wien gehalten hat.

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