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100 Jahre alt, aber zukunftsweisend

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Seit Menschen die Erde bevölkern, haben sie sich zu gemeinschaftlichem Handeln verbunden, wenn es galt, Ziele zu erreichen, die die Kräfte des einzelnen übersteigen. Immer schon gab es auch Bestrebungen, durch genossenschaftlichen Geist entweder der Verarmung und Ausbeutung der arbeitenden Menschen entgegenzutreten oder gemeinsam wirkungsvoller und produktiver zu arbeiten.

Aber all diese Zusammenschlüsse der kleinen Leute in Stadt und Land waren nur vereinzelte Keime genossenschaftlichen Lebens. Erst in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts sprossen daraus die Genossenschaften zu voller Blüte.

Wie viele Bereiche des menschlichen Lebens von Einzelpersönlichkeiten befruchtet und geprägt werden, so stehen auch in der Anfangszeit der

Genossenschaftsbewegung die großen Wegbereiter, deren Denken und Tun richtungweisend waren und deren Namen noch in unsere Zeit her-eiqwirken.

Mit der Geschichte des ländlichen Genossenschaftswesens untrennbar verbunden ist ein Name: Friedrich Wilhelm Raiffeisen, den man zu Recht gls einen der großen Sozialreformer des“ 19. Jahrhunderts bezeichnet. Sein Name wurde identisch mit der von ihm ins Leben gerufenen Bewegung.

Verschiedene Quellen ließen den Genossenschaftsgedanken im vergangenen Jahrhundert wieder aufleben. Eine der Quellen war der Geist der Liberalität, der dem Menschen die neu errungene Freiheit sichern wollte.

Eine andere war die Humanität, die das Wohl des Menschen in den Mittelpunkt stellt und auf den Gedanken der Fraternität baut. Und schließlich war auch die Solidarität eine Quelle, aus der genossenschaftliches Gedankengut floß. Alle diese Quellen vereinigten sich in der Person Raiffeisens zu einem mächtigen Strom.

Er war überzeugt davon, daß im Zusammenschluß und in der genossenschaftlichen Organisation der Landwirte das wirksamste Mittel gegeben sei, eine Gesundung im wirtschaftlichen Bereich herbeizuführen und die besonders akute Frage der Kreditbeschaffung zu lösen. Er schuf die Ansätze, um die Bauern nach der Loslösung von der Leibeigenschaft aus der Unselbständigkeit und Rückständigkeit in die Unabhängigkeit und zum Fortschritt zu führen.

Raiffeisen lehrte die Bauern nicht nur rechnen und wirtschaften, sondern zeigte den entscheidenden Weg einer gemeinsamen Betriebsmittelbeschaffung und des gemeinsamen Warenabsatzes bei freier Entscheidung des einzelnen auf. Raiffeisen blieb nicht im Wirtschaftlichen allein stekken, er dachte ganzheitlich.

Er wurde nicht müde, darauf aufmerksam zu machen, daß die von ihm gegründeten Darlehenskassen-Vereine „es nicht allein bei der Geldvermittlung bewenden lassen, sondern auf die Gesamtwohlfahrt ihrer Mitglieder ihr Auge richten“.

Friedrich Wilhelm Raiffeisen, am 13. März 1818 in Hamm an der Sieg geboren, wurde 1845 Bürgermeister der Gemeinde Weyerbusch. Mit den Mißernten der Jahre 1846 und 1847 brach über die Landwirtschaft eine schwere Krise herein. Die Not in den ohnehin schon armen Westerwald-

dörfern nahm bedrohliche Formen an. Weyerbuscher Bürger erhielten zwar aus den königlichen Magazinen Mehl gegen Barzahlung, der mittellosen Bevölkerung war jedoch damit nicht geholfen.

Bürgermeister Raiffeisen gründete daher einen „Brotverein“ wohlhabender Bürger, der den Armen im Bezirk seiner Bürgermeisterei Mehl und Brot auf Vorschuß verschaffte.

In Flammersfeld, wo er 1848 Bürgermeister wurde, gründete er einen „Hilfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte“ und in Heddesdorf, wohin er 1853 versetzt wurde, einen Wohltätigkeitsverein. Auch zinsengünstige Kredite wurden vergeben, um den weitverbreiteten Wucher auf dem Lande zu bekämpfen.

Die Nächstenliebe war für Raiffeisen das höchste soziale Gesetz. Die Wohlhabenden seiner Gemeinden hafteten für Kredite, deren Empfänger die Ärmsten des Ortes waren.

Raiffeisen schreibt: „Vom geschäftlichen Standpunkte aus betrachtet, ist es doch viel verlangt, wenn man den wohlhabenderen Einwohnern zumutet, in einen Verein einzutreten, mit ihrem ganzen Vermögen solidarisch zu haften, ohne Vergütung die Verwaltung zu führen und dabei nicht einmal Anteil am Gewinn zu haben. Aber ihre Begründung finden diese Zumutungen in der Pflicht der werkstätigen Nächstenliebe.“

Der überzeugte Christ Raiffeisen, für den in der „ausdauernden christlichen Nächstenliebe allein die Lösung der sogenannten sozialen Frage“ lag, mußte bald erleben, wie die Aktivitäten seiner Wohltätigkeitsvereine nach und nach erlahmten. Risiko ganz oh-

ne Gegenleistung - das wurde den Mitgliedern schließlich doch lästig.

Im Jahre 1862 entstanden die ersten richtigen Darlehenskassenvereine, jeweils begrenzt auf nur ein Kirchspiel. Sobald ein Genossenschaftsmitglied aus der Pfarre verzog, hörte die Mitgliedschaft auf.

Die solidarische Haftung wurde erstmals verbindlich eingeführt. Kredite erhielten nur Mitglieder. Die Rückzahlung erfolgte in Raten, entsprechend der persönlichen Leistungsfähigkeit der Schuldner. Das Prinzip der Wohltätigkeit wurde aufgegeben.

Mit 47 Jahren mußte Raiffeisen wegen seiner angegriffenen Gesundheit - er war fast blind - pensioniert werden. Er lebte seitdem in Neuwied und widmete sich ganz seiner genossenschaftlichen Aufbauarbeit. Seine genossenschaftlichen Erfahrungen publizierte er 1866 in dem berühmt gewordenen Buch über „Die Darlehenskassenvereine als Mittel zur Abhilfe der Not der ländlichen Bevölkerung sowie auch der städtischen Handwerker ufiti Arbeiter“.

Er schreibt darin: „Die hier vorgeschlagenen Vereine gründen sich auf die unbedingteste Selbsthilfe“. „Die Statutenbestimmungen sind darauf berechnet, den leider wenig mehr vorhandenen Gemeinsinn zu wecken und zu beleben.

Die Solidarhaft der Mitglieder hat bei diesem Verein nicht allein den Sinn, zur Herbeischaffung der nötigen Geldmittel zu dienen; sie soll den Mitgliedern die Pflicht jedes einzelnen Gliedes der Gesellschaft zum Bewußtsein bringen, einzustehen. Einer für Alle und Alle für Einen, in christlicher Solidarität sich zu vereinigen und zusammen zu wirken.“

Der Grundsatz der Selbsthilfe war das Fundament aller ländlichen Genossenschaften. Der Bezirk jedes Darlehenskassenvereins sollte möglichst klein und damit überschaubar sein.

Der Nachbarschaftsverband, das

Sichkennen der Mitglieder war die Basis für die Kreditwürdigkeit und damit ein guter Schutz gegen Verluste. Die Solidarhaftung in durchaus christlicher Verbundenheit gab ihr den notwendigen Halt.

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Selbsthilfe - die Basis

Die Kunde von der not-wenden-den Tätigkeit der Raiffeisenschen Genossenschaften im benachbarten Deutschland drang auch nach Österreich. Eine Delegation wurde 1886 zu Raiffeisen geschickt. „Es wird mich freuen, wenn ich, der als Greis am Grabesrand steht, noch erleben kann, daß auch in Österreich sich mein System Bahn gebrochen hat“, sagte er zum Delegationsmitglied Karl Kallik.

Und er konnte es noch erleben. Im Dezember 1886 wurde die erste Raiffeisenkasse in Mühldorf in Niederösterreich gegründet. Zehn Jahre später waren es in Österreich bereits 600. Raiffeisen starb am 11. März 1888.

Heute steht der Name Raiffeisen nicht mehr nur für den großen Sozialreformer und Genossenschaftsgründer aus dem vorigen Jahrhundert. Er kennzeichnet zugleich eine weitverzweigte, leistungsstarke Wirtschaftsorganisation, die bemüht ist, die Grundsätze ihres Gründers wieder neu zu beleben, angepaßt an die Gegebenheiten der heutigen Zeit.

Denn das Großartige an der Leistung Friedrich Wilhelm Raiffeisens besteht darin, daß sein Werk zwar den Bedürfnissen des Augenblicks entsprach, zugleich aber auch Flexibilität genug besitzt, auch ganz anderen Situationen in anderen Gesellschaften zu entsprechen.

Ein zeitlos gültiges Werk

Raiffeisen hat bewiesen, daß das Streben nach wirtschaftlichem Erfolg mit dem Verlangen nach mehr sozialer Gerechtigkeit durchaus in Einklang gebracht werden kann. Er hat im 19. Jahrhundert eine so entwick-lungs- und anpassungsfähige Form gefunden, daß sie auch im 20. Jahrhundert optimal funktionsfähig geblieben ist.

Er wollte mit seinem Wirken der damals gegenwärtigen Not des Augenblicks entgegentreten und hat darüber hinaus etwas für alle Zeit Gültiges und Wirksames geschaffen. Wer sich die Mühe nimmt, seine Schriften zu studieren, wird Hinweise finden, die einem modernen Managementbuch entnommen sein könnten. Mehr noch: Das für mich immer wieder Unerwartete und Überraschende bei der Beschäftigung mit dem Leben und dem Werk Raiffeisens ist, daß er die Zeichen auch der heutigen Zeit zu deuten hilft. Er hat beispielsweise die genossenschaftliche Förderung nicht allein auf den wirtschaftlichen Bereich bezogen, sondern auf den gesamten Lebensbereich des Menschen.

Sein ganzheitliches Denken weist so einen Weg für die Zukunft. Sein Leben ist vor-gelebte Zukunft!

Der Autor ist Obmann dar Raiflelsenlandesbank Niederösterreich-Wien.

AnMig*

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