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1000 Seiten Judentum

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Eine (vergleichsweise freilich harmlose) Folge der „Endlösung“ war, in deutschen Landen und darüber hinaus, die Tabuisierung der Judenfrage: die psychische Hemmung, ja Unfähigkeit, über Juden und Judentum, unter welchem Aspekt auch immer, seriös zu diskutieren. Diese Art von Philosemitismus schuf aber nur ein neues Ghetto.

Über die Juden so neutral zu sprechen wie — sagen wir — über die Perser, gelingt dem Buch „Das Judentum“ in Kindlers Kulturgeschichte. Der Autor Johann Maier — Österreicher, Jahrgang 1933, Studium der evangelischen Theologie sowie der Judaistik, Semitistik und Geschichte, seit 1966 Ordinarius für Judaistik zu Köln —, der Autor also nennt die Dinge durchaus beim Namen: von den „judenfeindlichen Pöbelhaufen“ der russischen Pogrome bis zu dem „nationalsozialistischen Verbrechen“ der „geplanten Ausrottung“, und zwischen den Zeilen mag man sogar des Verfassers Glauben herauslesen, daß der dem Judenvolk erteilte heilsgeschichtliche Auftrag zwar nicht unverändert, aber doch unvermindert fortbestehe. Doch macht die Liebe zu seinem Gegenstand ihn nicht blind, weder im Hinblick auf biblische Mythen noch angesichts der Sachzwänge im Zionismus und im Staat Israel.

Die von Maier praktizierte Betrachtungsweise der Geschichte als Gegenwart und, eo ipso, der Gegenwart als Geschichte, fördert, wie wohl jedes Verständnis der Geschichte als Heilsgeschichte und somit als Aktualität, höchst einleuchtende Parallelen und Continua zu Tage: Wie das heutige Israel aus Bedrohung und Verfolgung entstanden ist, so kam die „nationale“ Einigung unter Saul und David aus dem Bewußtsein der gemeinsamen Gefährdung und des gemeinsamen Gegensatzes zur kanaanäisch-phili-

stäischen Übermacht und Kultur. Im Grunde überhaupt nicht geändert hat sich, auch wenn heute mehr politisch als theologisch argumentiert wird, die ganze Problematik der Landverheißung, mitsamt den eingesessenen Minoritäten als Prüfstein: noch Martin Buber suchte Antworten auf die Fragen, die schon von Josua und im Buch der Richter aufgeworfen worden waren. Das Brauchtum hatte Bekenntnisfunktion nicht erst im Ghetto des 16. oder im polnischen „Städtl“ des 19. Jahrhunderts, sondern schon im Hellenismus, ja schon während der Landnahme.

Maiers Synopse vierer Jahrtausende zeigt aber auch, wie schwer in einen verbindlichen Begriff zu fassen das Judentum immer schon war; Als Rasse? Als Volk? Als Nation? Als Religionsgemeinschaft? Als Kulturtradition? Als dieses in jenem? Als alles in einem? Wer war nun wirklich „jüdisch“: auch Jesus, der eine neue Religion gestiftet hat? Audi der Pseudo-Messias Sabbetaj Zbi, der, um sein Leben zu retten, zum Islam konvertiert ist? Auch Karl Marx, der Prophet einer säkularisierten heilen Welt? Wie „jüdisch“ waren die Künstler, die um 500 die Mosaikfußböden der Synagogen von Bet Alfa oder Bet Schean in hellenistischer Manier figural gestaltet haben? Und wie „jüdisch“ waren jene Turk-Stämme im südrussischen Chazarenreich, die um 800 aus freien Stücken zur mosaischen Religion übergetreten sind?

Politisch relevant geworden ist diese Frage nach dem wirklich und eigentlich Jüdischen natürlich immer in Zeiten möglicher Emanzipation und Assimilation: wenn die bislang außer Zweifel stehende Zugehörigkeit zum Judentum gleichsam zu einer Gewissensentscheidung des einzelnen Juden wurde. Als führte

gerade auch die an sich erwünschte Emanzipation seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zu einer Aufsplitterung der Judenheit in völlig unterschiedliche Haltungen sowohl gegenüber der eigenen ethnischen, kulturellen und religiösen Herkunft als auch gegenüber dem Gastland; mit der weiteren Folge, daß die Juden in summa nun erst recht für unzuverlässig, als Bürger mit zwiegespal-tener Loyalität, galten. Maier liefert in diesen Kapiteln eine plausible Erklärung für die Ironie der Weltgeschichte, daß just die Emanzipation den Weg frei gemacht hat für rassistisches Denken — mit der Endstation Auschwitz.

In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, was gerade Deutschland und Österreich für das Judentum positiv bedeutet haben: durch die deutsche Sprache speziell für die jüdische Aufklärung, und für das ganze Ost Judentum durch das Jiddisch, da dieser sp'ätmittelalterliche deutsche Dialekt bis ins 20. Jahrhundert herein die jüdische Gemeinsprache und zeitweise auch die Literatursprache war. Wohl deshalb ist, umgekehrt, gerade das deutsche Dichten und Denken stärker von jüdischem Geist befruchtet worden als das der Franzosen etwa, der Russen sogar und der Amerikaner.

Johann Maiers Buch vom Judentum versucht, erfreulicherweise, keine Sinngebung jüdischen Schicksals. Allein schon die Fakten mehren die Faszination, die immer neu zu dialogischer Antwort herausfordert.

DAS JUDENTUM. Von der biblischen Zeit bis zur Moderne. Von Johann Maier. 4 Farbtafeln, 20 Schwarzweiß-Bildseiten und 8 Karten. 1021 Seiten. Kindlers Kulturgeschichte. Kindler-Verlag, München.

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