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10.000 Seiten Musil-Nachlaß

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Liest man heute etwas über Robert Musil, den zu Lebzeiten erfolglosesten Autor solchen Formats, so gerät man meist ins Maßlose, Gigantische, nie zu Bewältigende. Da gibt bei der Gründung der Internationalen Musil-Gesellschaft nicht nur ein Bundeskanzler (nämlich der unsere) ein Statement ab. Da wird nicht nur ein Vorstand mit Marie-Louise Roth und Ernst Schönwiese konstituiert, sondern auch ein Kuratorium mit allerprominentesten Namen gebildet, etwa Marcel Brion, Andre Malraux, Ignazio Silone und Rudolf von Salis, und da erscheint nun auch eine ausschließlich diesem Autor gewidmete Halbjahresschrift mit dem Titel Musil-Forum, 144 Seiten stark und mit Beiträgen in vier Sprachen, als erste Nummer.

Sie behandeln Editionsfragen, Mu-sil-Texte (sehr mager), Biographisches und Erinnerungen (dank der Beiträge von Bernhard Guillemin reichhaltiger), die Rezeptionsgeschichte der „Schwärmer“ (zu breit geraten), Nachrichten über die Internationale Robert-Musü-Gesellschaft, deren Organ das Forum ist, Glossen, sowie Rezensionen einiger wichtiger Musil-Studien aus letzter Zeit, deren Autoren angesehene Fachleute sind. Auch die Rezensenten können als solche gelten, aber es fällt da ein zuweilen sehr polemischer, militanter Ton auf, der erstaunlich ist, wo es sich um ein so heikles Thema wie etwa die mystischen Elemente in Musils Hauptwerk „Der Mann ohne Eigenschaften“ handelt. „Arroganz und Apodiktik“ machte man sich da wechselseitig zum Vorwurf. Jedenfalls ein ungewöhnlicher Anfang.

Aus mehreren Beiträgen erfährt man einiges, wenn auch nichts Präzises, über den Musil-Nachlaß, der sich im Besitz des Professors Gae-tano Marcovaldi in Rom befand und der angeblich rund 10.000 Seiten umfaßt. Und man erfährt von dem größten uns bekannten Arbeitsstipendium dieser Jahrhunderthälfte: Von der Bollingen-Stiftung in New York wurde nämlich dem Germanistenehepaar Ernst Kaiser und Eithne Kaiser-Wilkins ein über zwei Jahr-zehnte(!) währender Aufenthalt in Rom finanziert, ausschließlich mit der Aufgabe, diesen Riesennachlaß zu sichten, zu ordnen und für die Gesamt-Edition vorzubereiten: (Die Mikrofilme befinden sich im Germanistischen Seminar der Universität Reading, Berkshire, die Original-Manuskripte in der Wiener Nationalbibliothek. Sitz der Musil-Gesellschaft ist die Universität Saarbrük-ken.)

Es gibt in dieser ersten Nummer des Musil-Forums auch ein Gespräch, das die Wiener Autorin Dorothea Zeemann mit den Kaiser-Wilkins führte. Sie haben nicht das Gefühl, „abgeschlossen zu haben und alles über Musil zu wissen“. Der Tatsache, die immer wieder bei Musil-Interpretationen betont wird —, daß seine Ausbildung als Mathematiker, Ingenieur und Architekt auf sein Schaffen Einfluß ausgeübt habe, messen sie keine Bedeutung bei, Musils Weg sei weniger ein „ratioider“ als ein „mystischer“ gewesen, wobei sie hinzufügen, daß sie als jahrzehntelang mit der Arbeit an Musil Beschäftigte die Distanz zu seinem Werk verloren haben und nicht „interpretieren“ könnten. Aber Musil hat das ja, bis zur Erschöpfung des Lesers, selbst getan. Es sind dies die unzähligen Anmerkungen über Anmerkungen zu den Anmerkungen. Auch über sich selbst...

Aber von dem verdienstvollen Herausgeber der ersten Musil-Großaus-gabe, Adolf Frise, sowie von dem Risiko, das damals der Rowohlt-Verlag auf sich nahm, ist kaum die Rede. Und es handelt sich immerhin um drei sorgfältig zusammengestellte Bände von je 800 bis 900 Seiten. Nun werden also Dutzende von Disser-tanten über diesen Riesennachlaß krabbeln. Wir aber fragen uns, ob denn Musils Werk, wie es in der genannten Ausgabe vor uns liegt, überhaupt schon genügend bekannt geworden, rezipiert und analysiert wurde. Wer hierzu ja sagen zu können meint, der trete vor und schweige.

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