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Digital In Arbeit

12.000 Seiten Beweise

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Vor 45 Jahren begann derNürn- V berger Prozeß gegen die deut- schen Hauptverantwortlichen für den Krieg und die NS-Massenmor- de. Seit fünf Jahren kann sich jeder selbst ein Urteil über das Verfahren bilden, das am 20. November 1945 eröffnet wurde. Damals hatte der Delphin-Verlag den Mut, die voll- ständigen Verhandlungsprotokolle in einem 15.000-Seiten-Taschen- buch-Reprint herauszubringen (FURCHE 38/1985). Abertausende schriftliche Beweisstücke und Ver- nehmungsprotokolle, auf die sich Anklage und Verteidigung bezogen, konnte man weiter nur in Biblio- theken nachlesen. Seit kurzem lie- gen auch sie vor: Zeitgeschichte im frühesten Stadium. Kern: Tonnen Dokumente, von den Siegern vor- gefunden, lastwagenweise nach Nürnberg gekarrt, von Anklägern und Verteidigern dem Gericht vor- gelegt. Hier nur zwei Beispiele aus diesem gigantischen Material.

Der „Bericht des SS- und Poli- zeiführers im Distrikt Galizien vom 30. Juni 1943" dokumentiert Den- ken der Unmenschen und Sprache der Unmenschlichkeit: „Bei der Auflösung des jüdischen Wohnbe- zirks in Lemberg... mußte, um eige- ne Verluste zu vermeiden, von vorn- herein brutal eingeschritten wer- den, wobei mehrere Häuser ge- sprengt beziehungsweise durch Feuer vernichtet werden mußten. Hierbei ergab sich die erstaunliche Tatsache, daß anstelle der gemel- deten 12.000 Juden insgesamt 20.000 Juden erfaßt werden konn- ten. Mindestens 3.000 jüdische Leichen, die durch Einnehmen von Gift Selbstmord begingen, mußten bei den Auf räumungsarbeiten aus allen möglichen Verstecken gebor- gen werden... Trotz der außeror- dentlichen Belastung, die jeder einzelne SS- und Polizeiangehöri- ge während dieser Aktionen durch- zumachen hatte, ist die Stimmung und der Geist der Männer vom er- sten bis zum letzten Tage außer- ordentlich lobenswert gewesen. Nur durch persönliches Pflichtbewußt- sein jedes einzelnen Führers und Mannes ist es gelungen, dieser Pest in kürzester Frist Herr zu werden." (Dokument 018-L. Beweisstück US- 277)

Ein Kontrastthema dazu sind die Ausflüchte der NS-Größen, deren Verhalten vor Gericht zu den von NS-Apologeten besonders gründ- lich verdrängten Tatsachen zählt. Eidesstattliche Versicherung der früheren Sekretärin des teilweise geständigen ehemaligen Wiener Reichsstatthalters Baidur von Schi- rach (in dessen Tresor ein Bündel Lebensversicherungspolizzen um- gekommener Juden gefunden wur- de):

Im Frühjahr oder Sommer 1943 habe ihr Henriette von Schirach erzählt, sie habe in Amsterdam vom Hotel aus gesehen, wie nachts Hunderte Judenfrauen abtranspor- tiert worden seien. Sie habe sich darüber sehr aufgeregt und den Vorfall auch ihrem Mann erzählt. Dieser habe ihr geraten, sie solle doch auf dem Obersalzberg Hitler das erzählen, damit er eingreifen und solche Mißstände abstellen könne. Hitler habe aber diese Er- zählung sehr ungnädig aufgenom- men, habe sie unterbrochen und gesagt, sie solle nicht so sentimen- tal sein. Kein Mensch habe noch etwas gesprochen und die Situa- tion sei so peinlich gewesen, daß die Schirachs sich hätten zurückzie- hen müssen. Hitlers Adjutant hätte dann den Eheleuten Schirach den dringenden Rat gegeben, am näch- sten Tag in aller Frühe abzureisen, weil Schirach befürchten müsse, daß Hitler ihn in das KZ bringen lasse. Hitler habe Schirach später nie mehr empfangen.

Der kleine Mann hatte eher etwas von-den Massenmorden erfahren als die Größen des Regimes. Wäh- rend sich viele Nazigegner vor Hit-

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