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16 Autoren auf der Suche

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Realität im menschlichen Bereich ist: der Mensch, alles für ihn Wahrnehmbare und unabdingbar die aus dem Wahrnehmbaren sich entwik-kelnde Beziehung zwischen ihm selbst und dem Wahrgenommenen. Dem realistisch schreibenden Autor geht es um die Intensität dieser Beziehung. Er will sie im Leser (Hörer, Zuschauer, kurz „Publikum“), je nachdem, erwecken oder verstärken. Vom theoretisierenden Dozenten und vom predigenden Apostel oder Propagandisten unterscheidet er sich dadurch, daß er mit seinem Anliegen nicht direkt auf sein Publikum losgeht. Für ihn ist das Wort, die Sprache, nicht eine bloße Fähre, die er mit seinen Mitteilungen, Informationen und Überzeugungsversuchen befrachtet und an dem die kürzeste Strecke garantierenden Seil geradewegs zum Publikum hinüberschickt. Für ihn ist die Sprache das Medium, das er mit Beziehung zur Realität auflädt — nicht überhaupt und irgendwie, sondern zu der Realität, die für sein Sujet in Frage kommt, und auf solche Weise, daß das Publikum bei der Berührung mit diesem Sprachwerk den bestmöglichen Impuls zur Intensivierung seiner eigenen Beziehung zur Realität bekommt.

Erstens, auf welche Weise Schriftsteller das gemacht haben, machen, machen können, und zweitens, was dann die intensivierte Beziehung des Publikums zur Realität bewirkt hat, bewirkt und bewirken kann — das sollten wohl die beiden Brennpunkte für die „sechzehn Autoren auf der Suche nach einem literarischen Begriff“ unter dem Gesamttitel „Realismus — welcher?“ sein.

Und so bewegen sich die sechzehn Suchenden nach dem Ersten Kepler-schen Gesetz des Planetenumlaufs jeweils auf einer Ellipse, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht. Das heißt, jeder von ihnen umläuft den Brennpunkt mit der Sonne, nähert sich ihm und entfernt sich von ihm, nähert und entfernt sich wiederum, und keiner landet im Brennpunkt. Das heißt, um im Bilde zu bleiben, auch, die einzelnen Suchbahnen decken sich nicht, jede bildet eine Ellipse für sich.

Aber welcher der beiden Brennpunkte für sie der Sonnenort ist, das löst diese Suchenden aus dem illustrierenden Vergleich ihres Verhaltens mit dem von Planeten: Als Autoren bestimmen sie selbst den für sie geltenden Sonnenort. Einige den unter „erstens“ genannten Brennpunkt, die meisten den unter „zweitens“.

Dem ersten Brennpunkt — auf welche Weise Schriftsteller die Beziehung ihres Publikums zur Realität intensivieren — kommt als einziger Dieter Weilershof („Realistisch schreiben“) ganz nahe. Nach 13 numerierten, zum Verständnis der Sache gar nicht notwendigen, abschreckend verschachtelten Thesen streift er unter 14 und 15 einen Gedanken über das Verfahren zum Greifbarmachen der Realität, der' anschaulicher bereits von Viktor Schklowskij, einem der bahnbrechenden russischen Literaturtheoretiker der zwanziger Jahre, dargelegt wurde. Nämlich (so Schklowskij): „Ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen“, durch „ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert“: Dieses Sehen wie zum ersten Mal kann der Schriftsteller erreichen, indem er die Worte aus den gewohnten semantischen Reihen herausnimmt und auf ungewohnte Weise neu zusammenfügt.

Der zweite Brennpunkt — was die durch den Schriftsteller intensivierte

Beziehung des Publikums zur Realität bewirken kann — ist derjenige, um den sich die meisten der Sechzehn bewegen. Es kommt ihnen darauf an, was sie bewirken wollen: Veränderung der Gesellschaft, und diese Zielsetzung ist für sie jetzt und hier die realistische schlechthin, absolut verbindlich bis hin zu der Äußerung von Helmut Eisendle („Sprache und Schreiben oder Der Terminus Realismus“): „Einzig und allein der Einfluß auf den realen Denkprozeß des Lesers oder Hörers, nicht aber der wirkungslose Versuch, die Wirklichkeit objektiv darzustellen, scheint mir das Kriterium von Literatur zu sein.“ In seiner „Konfrontation mit der technologischorientierten Entwicklung“ sieht er sich gezwungen, „die Welt nicht als Künstler, sondern als verschiedenen Repressionen ausgesetztes Mitglied der Gesellschaft mit den repräsentativen Schwierigkeiten der Existenz und Entwicklung, als Unterdrückter und Benutzter zu sehen“ und sich für außerliterarische „Mittel und Dinge zu interessieren, die zur Überwindung oder Beseitigung der Problematik beitragen können“. Ob die Behandlung solcher Themen, fährt er fort, „mit dem Ziel, Denkanstöße und Einstellungsänderungen im Konsumenten zu erzeugen, nun realistische Literatur, Literatur oder überhaupt keine Literatur ist, erscheint mir gleichgültig, da ich ihre Berechtigung aus der Notwendigkeit für mich und andere ableite“. Das ist — „auf der Suche nach einem literarischen Begriff“ — gewiß die äußerste Entfernung vom selbstgewählten Brennpunkt.

Unter dem vielen, was zwischen den beiden Extremen durchlaufen wird (es gibt Rückblicke, Dispute, Auseinandersetzungen um Lukäcs, Brecht, Andorno usw.), nimmt die Abhandlung von Hans-Jürgen Schmitt, „Die Realismus-Konzeptionen in den kulturpolitischen Debatten der dreißiger Jahre — Zur Theorie einer sozialistischen Literatur“, nicht nur nach der Seitenzahl, sondern auch in informativer Hinsicht den breitesten Raum ein.

Insgesamt bietet der Sammelband ein Spektrum von Symptomen dessen, was für das Denken von fortschrittlich eingestellten Autoren der Geburtsjahrgänge 1925 bis 1944 aktuell ist.

REALISMUS — WELCHER? Sechzehn Autoren auf der Suche nach einem literarischen Begriff. Herausgeber Peter Laemmle. edition text + kritik, München, 187 Seiten, öS 142,50.

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