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1911: Damals paktierten Rot-Blau gegen Schwarz

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Die politische Wahl-Landschaft Österreichs ist seit fast 70 Jahren, seit es das allgemeine Wahlrecht gibt, ziemlich fest konturiert. 1907 wurde das Kurien-Wahlsystem durch ein allgemeines, gleiches und geheimes Wahlrecht für alle Männer, die das 24. Lebensjahr vollendet haben, ersetzt.

Das Abgeordnetenhaus des Reichsrates (entspricht dem heutigen Nationalrat) besaß damals 516 Sitze, 136 entfielen davon auf das Gebiet des heutigen Österreichs (mit Ausnahme des Burgenlandes, das zum Königreich Ungarn gehörte). Gewählt wurde in Einer-Wahlkreisen nach dem absoluten Mehrheitsprinzip: Jener Kandidat schaffte den Sprung ins Parlament, der die absolute Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen auf sich vereinigen konnte. Da eine absolute Mehrheit im ersten Anhieb nicht immer erreicht werden konnte, war oft ein zweiter Wahlgang, notwendig, dem sich die beiden Erstplazierten zu stellen hatten.

Dieses Wahlsystem gibt es heute z. B. in Frankreich. Großbritannien und die USA kennen das relative Mehrheitswahlrecht: Gewählt ist jener Kandidat, der die relative Mehrheit erhält.

Aus verschiedenen Gründen eignen sich zum Vergleich mit heute die zweiten und letzten allgemeinen Wahlen der Monarchie von 1911. Betrachtet man deren Ergebnisse, so muß man mit einiger Verblüffung feststellen, daß schon damals bestimmte Oberflächenstrukturen der Wahl-Landschaft in jenen mehr oder minder ausgeprägten Konturen vorhanden waren, wie sie sich heute darstellen.

1911 waren im heutigen Österreich I (ohne Burgenland) 1,265.173 Personen wahlberechtigt, davon gaben 1,056.975 ihre Stimme ab (85,1% Wahlbeteiligung). Bei den Wahlen ' zur Konstituierenden Nationalversammlung im Februar 1919 gingen 2,900.470 Österreicher (ohne Burgenland) zur Wahl, also fast dreimal soviel wie 1911.

Von den 136 Sitzen des heutigen Österreichs entfielen 68 auf die Christlichsozialen (genau 50%) und je 34 (je 25%) auf die Sozialdemokraten und das Dritte Lager (Deutschnationale, Deutsche Volkspartei, Deutschfortschrittliche, Alldeutsche usw.).

Summiert man aber die Stimmen, die im ersten Wahlgang für die einzelnen Parteien bzw. deren Kandidaten abgegeben worden sind, so ergibt sich ein anderes Bild: 56,1% für Christlichsoziale, 29,8% für Sozialdemokraten und 14,1 % Drittes Lager. Hätte man 1911 aber nach dem englischen (relativen) Wahlsystem gewählt, so wäre man zu folgendem Ergebnis gekommen: 87 Sitze (63,9%) für die Christlichsozialen, 28 (20,7%) für die Sozialdemokraten und 21 (15,4%) für das Dritte Lager.

Das ergibt eine starke Diskrepanz zwischen den Prozentsätzen der abgegebenen Stimmen, der Mandatsverteilung nach dem damaligen Wahlrecht und der Mandatsverteilung nach einem fiktiven relativen Wahlsystem. Wieso? Erstens wurden die Wahlkreise nicht, wie man annehmen könnte, nach der Einwohnerzahl, sondern nach der Steuerleistung eingeteilt. So umfaßte der 1. Wiener Bezirk vier, die Bezirke Favoriten oder Ottakring aber nur je zwei Wahlkreise. Diese Einteilung begünstigte das bürgerliche Dritte Lager und war schlecht für die Sozialdemokratie, wie ja aus dem Zahlenvergleich zu ersehen ist.

Zweitens hatten sich 1911 für den zweiten Wahlgang Sozialdemokraten und Drittes Lager abgesprochen, so daß christlichsoziale Kandidaten nur dann das Rennen machten, wenn sie gleich im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreichten. Die Parole hieß damals „Lieber Rot bzw. Blau als Schwarz“.

Besonders arg wirkte sich diese Absprache in Wien aus: Im ersten Wahlgang erhielten christlichsoziale Kandidaten etwa 137.000 Stimmen, sozialdemokratische etwa 154.000 und solche des Dritten Lagers etwa 43.000. Die Wiener Mandatsverteilung sah aber so aus: 4 Christlichsoziale, 20 Sozialdemokraten und 9 Drittes Lager.

Wien war bereits 1911 rot, bei den ersten Wahlen 1907 aber noch nicht. (Bürgermeister Lueger lebte damals noch.) Interessant sind auch die Bezirksergebnisse. 1911 waren bereits jene Bezirke rot (2,3, 5,10,11,12,14, 15,16,17,20 und 21)und schwarz (1,4, 6, 7, 8, 9, 13, 18 und 19), die es auch nach den letzten Wiener Gemeinderatswahlen von 1978 sind.

Weitere interessante Details:

Heute traditionell „schwarze“ Länder wie Nieder- oder Oberösterreich sowie Tirbl, waren auch damals mit einer sehr starken (2/3) christlichsozialen Mehrheit ausgestattet. Jene Länder, in denen heute die FPÖ bzw. das Dritte oder Nationale Lager (auch wenn es in einer der beiden Großparteien untergeschlüpft ist) eine gewisse Rolle spielt, waren auch damals schon mit einem starken Stimmenanteil dieser Gruppe gekennzeichnet, wie etwa Kärnten, wo die Nationalen überhaupt die Mehrheit besaßen, aber auch Salzburg, Steiermark und Vorarlberg.

Daß Graz heute einen FPÖ-Bür-germeister besitzt, dürfte an sich nicht wundern, wenn man die Grazer Ergebnisse zu den Wahlen 1911 betrachtet: 41,6% für die Sozialdemokraten, 29,8% für das Dritte Lager und 28,6% für die Christlichsozialen.

Was verdiente damals ein Abgeordneter? Eine gerade auch heute aktuelle Frage. Für die Sitzungstage des Abgeordnetenhauses erhielt er ein Taggeld von 20 Kronen. Wenn man großzügig 100 Sitzungstage pro Jahr annimmt, so sind das 2000 Kronen Jahresgehalt. Hinzu kommt noch ein Reisegeld von 2,64 Kronen pro österreichischer Meile (ca. 1,6 Kronen pro Kilometer) für die Entfernung vom Hauptort des Wahlkreises nach Wien.

Es ist natürlich schwer, die 20 Kronen Taggeld, die steuerfrei waren, in heutige Wertmaßstäbe umzurechnen. Nach groben Schätzungen dürften Tag- und Reisegelder gerade gereicht haben, um den Verdienstentgang an Sitzungstagen sowie Reise-und Aufenthaltskosten abzugelten.

Privilegiert waren damals auch ^chon die Beamten. Sie brauchten sich zur Ausübung ihres Mandates keinen Karenzurlaub zu nehmen.

Der Autor ist Leiter der Bildungsakademie des Österreichischen Car-tellverbandes.

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