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1945 — Impressionen, Konfessionen

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1975 jährt sich zum dreißigsten Mal in einer Serie einander jagender zeitgeschichtlicher Gedenktage eine der einschneidendsten weltgeschichtlichen Zäsuren, jähren sich Daten, die längst, und sicher für viele Generationen, zu historischen Bezugspunkten ersten Ranges geworden sind.

1945 endte nicht nur eine der blutigsten Despotien der Weltgeschichte, sondern mit dem Abwurf der ersten beiden Atombomben auch ein halbes Jahrtausend Kriegsgeschichte, endete dn der atomaren Glut von Hiroshima und Nagasaki das Zeitalter der chemischen Sprengstoffe, das mit Musketen und Feldschlangen begonnen hatte. Es starb nicht In Schönheit wie die Ära der Gepanzerten, die Ritterlichkeit war sowieso tot, es brauchte keinen letzten Ritter.

So, wie auch nach der Verdrängung des Schwertes, der Lanze und des Dolches aus ihrer beherrschenden Stellung weiter geschlagen und gestochen wurde und vielleiciht mehr als je zuvor, wird auch im Atomzeit-alter weiter konventionell geschossen und konventionell gebombt, und bekanntlich schon in den ersten Jahrzehnten des Atomzeitalters mehr als je zuvor. (Was aber an der Bedeutung der Zäsur nichts ändert — sie wurde bisher vorwiegend politisch wirksam.)

Kriegsende in Europa, Atombombe, Gründung der UNO, Nürnberger Prozeß — Daten, die zehn Jahre und zwanzig Jahre später ausufernd zelebriert wurden und an. denen die Medien auch heuer noch nicht vorbeigehen können. Doch die Popularität dieser Gedenktage geht rapid zurück. Die Generationen jener, die damals den Gang der Ereignisse bestimmten, sind so gut wie ausgestorben. Jene Generationen, über die die Ereignisse 'hinweggingen, folgen ihnen langsam, aber sicher nach. Der emotionelle Widerhall einschlägiger Reminiszenzen schwindet dahin. So wird Zeitgeschichte unaufhaltsam Geschichte. Überdeckt akademischer Staub das vergossene Blut Die Menschen, die den Geruch dieses Jahres noch in der Nase haben, sind längst in der Minderheit. 1945: Heuer wohl zum letzten Mal ein Thema für Zeitgenossen, ein Thema der Zeitgeschichte. Nächstesmal: unwiderruflich Geschichte.

Der Geruch der letzten Kriegsmonate, wie in so vielen Städten, so auch in Wien, war eine unverwechselbare Mixtur zweier Komponenten, die uns der Wind jede für sich auch heute noch gelegenüidh zuweht Es war ein Geruch von Ziegelstaub und verkohltem Holz, der nach den Bombenangriffen in der Luft hing, ein von gelegentlichen Schadenfeuern einerseits, Hausabbrüoben anderseits unvollkommen, weil nur teilweise wiedergegebener Geruch. Manchmal, alle paar Jahre vielleicht, wenn Niederdruck den Schornsteinrauch zurück zur Erde sinken läßt und irgendwo mit dem Staub einer von den Spitzhacken niedergelegten Mauer vermengt, Sekunden einer alarmierenden Präsenz, aber er ist es nicht, die Nase erinnert sich zu genau — sie läßt sich nichts 'unterschieben.

Nicht nur die Nase hat ein Gedächtnis, auch die Ohren und erst recht die Augen Es gibt Geräusche, die niemals wiederkehren. Niemals in der Geschichte. Kein Filmregisseur kann die Geräusche des Dreißigjährigen Krieges rekonstruieren Er hat sie nicht erlebt. Wer das Jahr 1945 mit einem schon wachen, aber noch nicht ermüdeten Bewußtsein in Wien erlebte, hat das vielstimmige, ferne Singen vieler Kolbenmotoren noch im Ohr. Niemand kann es nachmachen Ebensowenig wie den an- und abschwelenden Chor der Luftschutzsirenen. Erinnerung an die sinnlichen Valeurs geschichtlicher Ereignisse, Assoziationen, Privileg der Aussterbenden.

Die letzten Wintermonate im letzten Kriegsjahr. Ich weiß, daß der folgenschwerste Angriff gegen die Wiener Innenstadt am 12. März 1945 stattfand. Ich weiß es, weil sich der 12. März als Fixpunkt später, erst nach dem Krieg, in meinem Bewußtsein verankerte und weil mir das Zusammentreffen der Daten später, 'sehr viel später, auffiel und einprägte, ich erinnere mich da nur an meine Erinnerung. Am 12. März 1945 bedeutete mir der 12. März 1938 nichts. Ich war sehr jung Ka-lenderdaten bedeuteten mir nichts, ich hatte daher auch nicht das Gefühl, einen Anschlußdenkzettel verpaßt zu bekommen, als ich in einem der tiefen Keller des Ritterordens-hauses in der Singerstraße saß, als sich der Boden ruckartig hob und eine Frau schrie. Oder waren es mehrere? Ich weiß es nicht mehr genau. Ich weiß nur noch, was ich dachte. Ich hatte Angst, aber ich dachte! Ich werde nicht schreien. Ich dachte es mit der grenzenlosen Überlegenheit des knapp Siebzehnjährigen über Frauen und Kinder.

Daten sind Schall und Rauch. Die Männer, die den ersten Wiener Gemeindebezirk als Zentrum eines Bombenteppichs ausersahen, der am 12. März 1945 stattfinden sollte, wird niemand mehr fragen, ob sie an den 12. März 1938 dachten — oder an gar nichts, ich empfand damals jeden Angriff als Denkzettel, ich weiß noch, was ich damals, als die Bomben fielen, dachte. Ich dachte: Sie müssen es so machen, wie sollen sie anders mit den Nazis ferMgwerdeh. Ich weiß noch sehr genau, daß ich damals, ohnehin erst zum zweiten oder dritten Mal im direkten Zentrum eines Bombenangriffs, die Bombenangriffe sehr viel notwendiger, richtiger, verteddigungsweriter fand als heute. Man schrieb den 12. März? Ich hatte den Kalender weder im Kopf noch in der Tasche, aber ich erinnere mich, als wäre es erst wenige Jahre her, an das 1000-Kilogramim-Loch hinter dem unausgebauten Turm der Stephans-kirche, an die in der Luft hangende Ecke eines kleinen Anbaues, an das schwarze Loch am Grande des Bombentrichters, wo der Explosionsdruck das Gewölbe der Katakomben durchschlagen hatte.Bombenruinen, Wiederaufbau:

Ich erinnere mich an das registrierende Interesse, mit dem ich nach dem Angriff durch die Kärntner-straße ging, ohne mich daran erinnern zu können, was dieses Interesse registrierte. Ich erinnere mich an Rauch und an Brand- und Staubgeruch und sehr genau an jene Ecke des Philippshofes (gegenüber der Albertina, heute eine Grünfläche), wo es nur noch Schutt und einen tiefen Trichter gab.

Ich erinnere mich an eine Frau, die, wie fast alle Frauen damals, Hose und Turban trug, und die Vorbeigehenden anflehte, nach den Verschütteten zu graben. Uniter den Verschütteten waren Angehörige von ihr, und sie behauptete fest, Klopfzeichen gehört zu haben. Die Klopfzeichen müssen Einbildung gewesen sein — oder ein verzweifeltes Argument, Leute zum Graben zu veranlassen. Im Schutt pflanzen sich Geräusche kaum fort, und es war auf der Straße alles andere als leise. Ich weiß noch, daß ich dachte: Die kann nichts gehört haben. Ich erinnere mich an ein Chaos von Gefühlen beim Anblick dieses Trichters. Ich erinnere mich, wie ich in den Trichter kletterte oder vielmehr auf ohnehin kaputten Schuhen rutschte und ein paar Schuttbrocken aufhob. Ein Alibi. Für jede Schaufel, die einer herausholte, rutschten drei vom Rand nach. Ich ging weiter.

Der Oper entquoll schwarzer Rauch. Auch dem Heinrichshof entquoll schwarzer Rauch. Ich erinnere mich nicht an Flammen, zumindest nicht an diesem Mittag, erst später, am Abend, ich erinnere mich vor allem an Rauch. Wie es wirklich war, hat mir zwanzig- Jahre nach dam Krieg der Feuerwehrmann Gauners-dorf, 1945 in der Oper und 1965 noch toimer in der Oper beschäftigt, erzählt.

Offenbar waren damals zwei Bomben über das Dach des Hotels Sacher hinweg in den Bühnentrakt der Oper geflogen und mindestens eine davon auf der Bühne explodiert. Die Explosion schleuderte den eisernen Vorhang in den Zuschauerraum. Eine Bombe explodierte in der Opemgasse neben einem Pfeiler des Operngebäudes, eine weitere zerstörte den Kaisersaal. Auf der Bühne brach ein Brand aus.

Der Feuerwehrmann Gaunersdorf, der schon zwölf Jahre früher von der Berufsfeuerwehr in den Personalstand der Oper übergewechselt war, öffnete einen der Hydranten im Haus — kein Wasser. Er wußte genau, daß der Hydrant auf der anderen Seite des Hauses an einem anderen Leitungsstrang hing, aber auch er war versiegt. Auch aus den Hydranten auf der Straße kamen nur gurgelnde Geräusche. Der Bombenregen war so dicht gewesen, daß sämtliche Wasserleitungsstränge, die von mehreren Seiten zur Oper führen, getroffen waren. Blieben noch die vier großen, wassergefüllten Betonbecken, die den gesamten, heute von parkenden Autos verstellten Platz aWischen Oper und Kärnt-nerstraße einnahmen Während die Feuerwehrleute ein Pumpaggregat aus dem Haus zerrten und einen zufällig die Kärntnerstraße herunterkommenden, gefüllten Tankwagen anhielten, wurden sie von Tieffliegern angegriffen, deren Bomben Tankwagen und Pumpaggregat zerstörten Die Feuerwehrleute Gaunersdorf, Triska und Weigel blieben wie durch ein Wunder unverletzt — die Betonzisternen aber waren leer: Der Luftdruck hatte das Wasser auf die Straße geschleudert

Ich erinnere mich dunkel an diese Zisternen und ihr nicht sehr sauberes Wasser, und ich erinnere mich an meine abendliche Rückkehr zur Oper — und an den Schmerz, sie brennen zu sehen. Manche Erinnerungen sind für immer eingebrannt, anderen ist nicht ganz zu trauen. Ich glaube, mich daran zu erinnern, wie Musikinstrumente, Möbel und Notenbündel aus dem Haus getragen wurden. Aber auch der Feuerwehrmann Gaunersdorfer hat mir vor zehn Jahren davon erzählt. Vielleicht erinnere ich mich nur an seine Erzählung.

Die Glühbirne hingegen, die von der Decke im vierten Stock eines Hauses baumelte und nicht nur heil-gefolieben war, sondern noch am nächsten Tag brannte, Tag und Nacht und allen Verdunklungsmaßnahmen zum Trotz — obwohl unter ihr bis in den Keller nur noch Luft war —, sie ist verläßliche Erinnerung. Erinnerung wie das kleine, In eine gelbe Decke geschnürte Bündel mit einem Namenszettel, das aus einer Seitenkapelle der Karmeliter-kirche getragen wurde — nach einem anderen Angriff. Ich erinnere mich an die Flammen, die aus einer Drogerie im Erdgeschoß eines Hauses an der Ecke Taborstraße und Karmeliterstraße schlugen. Sie schlugen bis zu den oberen Stockwerken hinauf. Unglücklicherweise lagerten größere Mengen Farben und Petroleum in der Drogerie. Unglücklicherweise hatten viele Frauen und Kinder im öffentlichen Luftschutzraum dieses Hauses Schutz gesucht, man sprach von zweihundert Personen. Ich war allein in Wien. ICh kam meist spät in die kalte und leere Wohnung meiner Eltern zurück. Ich erinnere mich an einen Scheinwerfer, der nachts auf den Trümmern des Hauses Karmelitergasse und Taborstraße, dort, wo heute ein Schuhgeschäft ist, stand. Und ich erinnere mich sehr deutlich, so, als wäre es nicht schon dreißig Jahre her, an die dünnen Gestalten in blaugrau gestreiften Gewändern, die Nacht für Nacht, wenn ich nach jenem Angriff vorbeikam, dort schaufelten. Sie schaufelten zwei oder drei Tage und Nächte. Dann konnten die Toten, man sprach von zweihundert, geborgen und in der Kapelle der Karmeliterkirche zu kleinen Paketen verschnürt werden. Eines davon sah ich zufällig im Vorbeigehen. Es ersehreck'te mich-mehr Is-die-zer-bombten Fassaden. Und eine Leiche, von der ich gehört hatte, sie baumle im verbogenen Geländer eines zerstörten Stiegenhauses in einem Haus auf der anderen Seite unserer Gasse, vertrieb mich fast aus unserer Wohnung. Ich war damals ein Alles-leser. Kurz vorher war mir ein Buch über Gespenster zwischen die Finger geraten.

Als die sowjetischen Soldaten am Kai standen und die SS unsere Gassen verteidigte, unsere Häuser, die eigene Marktlage in dieser wetterwendischen Stadt wohl kennend, aber längst nicht mehr betrat, während der Gefechtslärm zunahm und die städtische Bibliothek auf der anderen Straßenseite brannte, las ich den „Golem“. Ich hatte ihn in der Bibliothek meines Vaters gefunden. Der Gefechtslärm und meine Lektüre erreichten etwa gleichzeitig ihre Hönepunkte.

Ersterer Höhepunkt war freilich ein historischer, letzterer ein privater. Ich brauchte keine Angst vor der Angst vor dem Einschlafen dm leeren Zimmer nach solcher Lektüre zu haben, denn die gesamte Hausgemeinschaft war längst in den Keller übersiedelt. Auf dem Boden lagen die Scherben einer zerbrochenen Schallplatte: Deutschland- und Horst-Wessel-Lied. Die Frau, die die Schallplatte geradezu rituell über dem Knie zerbrochen hatte, hatte wenige Tage vorher noch ihr JHeil Hitler!“ hell heraiusgeschmettert Da ich mein „Weltbild“ nicht der eigenen Erfahrung, sondern der unzeitgemäßen Bibliothek meines Vaters verdankte, bestärkte mich diese Erfahrung im Glauben an die Besserungsfähigkeit der Menschen.

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