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1970 brachte keine Zäsur

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Wenn wir Österreich im internationalen Vergleich ansehen, so weist es einige auffallende und positiv bewertete Spitzenergebnisse auf, die aber, wie ich meine, nicht spezifisch sozialdemokratisch, sondern spezifisch neokorporativ sind.

Sieht man sich die spezifisch sozialdemokratischen Indikatoren an, ist die Position Österreichs weit weniger eindeutig. Ich möchte nur einige sozialdemokratische Indikatoren herausgreifen, etwa die Umverteilung zugunsten sozial Schwächerer.

Die Umverteilung zu sozial Schwächeren hat in signifikantem Umfang in Österreich jedenfalls in den letzten zwölf Jahren nicht stattgefunden. Der Abstand zwischen Ärmeren und Reicheren besteht unverändert weiter, bisher relativ gut vermittelt durch das bis vor kurzem für selbstverständlich gehaltene Wirtschaftswachstum. Die Lohnquote ist stabilisiert, der Anteil der obersten und der untersten Einkommensbezieher ist ebenfalls stabilisiert.

Ein weiterer sozialdemokratischer Indikator ist die internationale Solidarität. Österreich liegt am untersten Ende der europäischen Rangordnung, was die Aufwendungen für Entwicklungsländer betrifft.

Das heißt: Wenn man internationale Solidarität in irgendeiner Form zu messen versucht, dann ist Österreich hier offenkundig überhaupt nicht sozialdemokratisch geprägt.

Ein dritter sozialdemokratischer Indikator ist die Bildungsreform. Bildungsreform ist eine Veränderung des Zuganges nicht in quantitativer, sondern in qualitativer Hinsicht. Das heißt: Steigerung des Anteils der Studenten, die aus sozial schwachen Schichten kommen.

Wiederum ist hier Österreich am unteren Ende der europäischen Rangordnung. Die Nutznießer der in Österreich stattgefundenen oder stattfindenden Bildungsexplosion sind bisher, vereinfacht ausgedrückt, die Töchter der Mittelschichten. Verändert hat sich die Verteilung von männlich und weiblich, nicht verändert hat sich, bezüglich) des Zuganges zur Universität, die Verteilung von oben und unten.

Im historischen Vergleich können wir daher feststellen, daß 1970 kein signifikanter Einschnitt in der österreichischen Gesellschaft war.

Es gibt auch keinen Ausschluß traditioneller Eliten von der Machtausübung als Folge der sozialdemokratischen Regierung. Die traditionellen Eliten regieren nach wie vor auf verschiedenen Ebenen mit: der Föderalismus, die Sozialpartnerschaft.

Und zuletzt noch: Sozioökono-mische Weichenstellungen im Sinne demokratischer sozialistischer Zielvorstellungen wurden in der innenpolitischen Diskussion gar nicht ernsthaft angeschnitten. Die paritätische Mitbestimmung ist ab und zu ein Vokabel, das hin und wieder der Sozialminister erwähnt — offenkundig damit nur den ÖGB-Präsidenten verärgernd.

Selbstverwaltungsmodelle sind in Österreich auch in der sozialdemokratisch dominierten Gemeinwirtschaft nicht ernsthaft erprobt worden, von der Sozialisierung von Produktionsmitteln möchte ich in diesem Zusammenhang erst recht schweigen. Was man hier an

sozialdemokratisch beeinflußten — etwa gemeinwirtschaftlichen — Veränderungen hat, das hat man schon vor 1970 gehabt

Wesentliche Entscheidungen sind in Österreich parlamenta-, risch nicht mehrheitsabhängig,

• weil sie, wie die Schulgesetze de jure, an eine Zweidrittelmehrheit gebunden sind und sich daher der SPO entziehen;

• weil sie de facto, wie etwa Mitbestimmungsfragen, in die Sozialpartnerschaft ausgelagert sind.

Weiters ist als letzte Erklärung auch die SPÖ als eine Partei zu sehen, die, dem Gesetz der Stim-menmaximierung folgend, unterstützt von den Modellen der empirischen Sozialforschung, ihre Politik plebiszitär orientiert. Und wesentliche Entscheidungen, die sozialdemokratischen Zielen entsprechen würden, sind in Österreich plebiszitär nicht mehrheitsfähig.

Ich meine, daß die sozialdemokratische Ära, jetzt buchstabengetreu interpretiert, die Ära der SPÖ-Regierung ist.

Wir haben seit 1970 eine Gewöhnung an die Einsicht, daß die Sozialdemokratie normal ist, daß aber Sozialdemokratie weder der Aufbau einer Modellgesellschaft des demokratischen Sozialismus noch das Ende des bürgerlichen Zeitalters bedeutet. Demokratischer Sozialismus und bürgerliches Zeitalter sind vielmehr in Österreich miteinander symbio-tisch verschmolzen.

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck.

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