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20 Jahre sind genug

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Seit 20 Jahren gibt es in Österreich eine Grundrechtsreformdiskussion hinter verschlossenen Türen. Ab und zu erfuhr der Bürger die gerade behandelten Themen, wenn er die „Wiener Zeitung" las.

Im übrigen haben sich die Massenmedien trotz jahrzehntelanger Mahnung durch einzelne Wissenschaftler dieses wichtigsten Bereichs der Rechts-, ja der Verfassungsordnung nicht angenommen.

Dabei ist eine Grundrechtsreform dringend notwendig. Nicht nur Unübersichtlichkeit und Streulage des Grundrechtsbestandes verlangen nach Rechtssicherheit und Rechtssicherung. Die Republik Österreich darf' auch nicht zur Grundrechtsprovinz werden. Sie muß mit der internationalen Grundrechtsentwicklung Schritt halten, ja sie könnte, sollte, müßte zum Musterland des Grundrechtsschutzes und der Menschenrechte werden. Die wissenschaftlichen und technischen Veränderungen, der Wandel von Staat und Gesellschaft, die Entstehung neuer Machtstrukturen und Freiheitsgefährdungen machten eine Reform der Grund- und Freiheitsrechte zum staatspolitischen Thema Nr. 1 schon in den 60er Jahren. Auf Initiative des Bundeskanzlers Klaus wurde vor 20 Jahren beim Bundeskanzleramt ein „Expertenkollegium für Probleme der Grund- und Freiheitsrechte" eingesetzt. Es sollte die Grundlagen für eine großangelegte, systematische und einheitliche Neukodifikation entwerfen.

Nach rund zehn Jahren hat dieses Kollegium auf Grund eines vom Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes erstellten Programms die erste Phase der Aufgabe abgeschlossen. In der zweiten Phase wurden von einem aus Mitgliedern dieses Kollegiums gebildeten Redaktionskomitee konkrete Formulierungen ausgearbeitet. Diese Arbeiten sind im wesentlichen abgeschlossen. In den Regierungserklärungen von 1979 und 1983 wurde die Neukodifikation der Grund- und Freiheitsrechte als ein vordringliches, „überaus wichtiges Anliegen" bezeichnet.

Jetzt beginnt die dritte Phase der Grundrechtsreform. Eine von den im Parlament vertretenen Parteien beschickte „politische" Kommission soll die Entscheidung für den Verfassungsgesetzgeber vorbereiten.

Die internationale, gesellschaftliche und natürliche Umwelt der herkömmlichen klassisch-liberalen Grundrechte hat sich geändert. Die politischen, geistigen, ökonomischen, wissenschaftlichtechnischen Realitäten haben sich gewandelt.

Der Rechtssprechung des Verfassungsgerichtshofes ist es nur zum Teil gelungen, die alten Rechte bei diesen Veränderungen und Wandlungen immer wieder neu in den Dienst wirklicher Freiheit zu stellen. Dem einfachen Gesetzgeber ist zuviel Spielraum für die Regelung der einzelnen Lebensund Gesellschaftsbereiche überlassen. Die steigende Verstaatlichung und Verrechtlichung aller Lebensbereiche und die Gefährdung der letzten Autonomien verlangen eine Bedeutungssteigerung und Bedeutungserweiterung der Grundrechte.

Der Grundrechtskatalog wirkt sich leider zu wenig auf die an das politische Institutionengefüge herangetragenen Eingaben aus. Er fungiert zuwenig als Selektionsmechanismus, zu wenig als ständige ordnungspolitische Eingabe im politischen Prozeß, zuwenig als Orientierung und Ziel von Politik und Rechtssetzung.

Die Grundrechte werden fast ausschließlich als Abwehr- oder Unterlassungsansprüche gegen staatliche Eingriffe in bestimmte Freiheitssphären verstanden. Der Gedanke, daß sie auch objektives, für alle Staatsfunktionen übergeordnetes Recht sind, daß Sie Ausdruck von Werten, Ausdruck des Grundkonsenses sind, ist bei uns zu kurz gekommen.

Jedes neue Gesetz, jeder neue Staatsvertrag, jede Veränderung der Rechtsordnung durch politische Entscheidungen überhaupt modifiziert die Grundrechtssituation. Es besteht die Gefahr, daß der Grundrechtsstaat, der die Menschenrechte und Grundfreiheiten anerkannt, sich in die Richtung eines immer weniger beschränkten Gesetzesstaates entwickelt.

Schon 1970 stellten Wissenschaftler fest, daß die Grundrechtsreform nicht das politische Bewußtsein der Öffentlichkeit ergriffen hat. Die Grundrechtsreform ist aber nicht nur ein technisches, sondern auch ein politisches Problem. In der Bevölkerung ist zwar ein Unbehagen an vielerlei zu verspüren, aber eine Massenbewegung von emotioneller Tiefe für eine Grundrechtsreform ist nicht vorhanden.

Man kann sogar sagen, daß ein ausgeprägtes Desinteresse an Fragen des Verfassungsrechts die österreichische Öffentlichkeit und die Massenmedien kennzeichnet. Nur wenn Konflikte entstehen, aktualisiert sich das Verfassungsbewußtsein. Voraussetzung für eine Grundrechtsreform ist aber auch die große politische Diskussion in der Öffentlichkeit.

Die 20 Jahre des Schweigens sind jedenfalls zu lang. Sie sind symptomatisch für eine Politik von oben. Daher: Heraus mit der Grundrechtsreform!

Der Verfasser ist Professor für Rechtslehre an der Universität für Bodenkultur und Wiener ÖVP-Gemeinderat.

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