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2.850 Nächte Betreuung
Eines Tages während meiner Kaplanszeit in Heiligenstadt hat es mich tief berührt, als ich einen Mann spätabends auf einer Bank sitzen sah, der sichtlich kein Quartier hatte, ich ihn aber nicht in das Kloster mitnehmen hätte dürfen, wo Platz genug gewesen wäre - denn es ist ja viel leichter Barmherzigkeit zu predigen, als sie zu üben!
Eines Tages während meiner Kaplanszeit in Heiligenstadt hat es mich tief berührt, als ich einen Mann spätabends auf einer Bank sitzen sah, der sichtlich kein Quartier hatte, ich ihn aber nicht in das Kloster mitnehmen hätte dürfen, wo Platz genug gewesen wäre - denn es ist ja viel leichter Barmherzigkeit zu predigen, als sie zu üben!
Von da an hat mir das Schicksal der Obdachlosen keine Ruhe gelasseq. In den verschiedensten Überlegungen, was ich zur Lösung dieses Problems unternehmen könnte, stieß ich auf den Wegweiser in Gestalt der Legionärin Martha Schmitz. Sie erzählte mir von einem Vorhaben der Legio Mariae, dem man Chancen zum Gelingen zubilligen könne. Daß ich auf diesem Weg davon erfuhr, mich auf ihren Rat entschloß mitzutun, und in der Folge manches glückte, ist der besonderen Vorsehung Gottes zuzuschreiben. 14 Jahre lang sollte die übernommene Aufgabe den größten Teil meiner Freizeit in Anspruch nehmen, viel Mühe und Sorge, aber auch innere Erfüllung bringen.
Gefängnisseelsorger Anton Eder litt wie viele andere darunter, wenn gutwillige Häftlinge nach Verbüßung der Strafe hilflos und obdachlos auf die Straße gesetzt werden, unfähig, von sich aus ein gediegenes Leben aufzubauen. Energisch wie er ist, wollte er es nicht beim Mitleid bewenden lassen. Nun wäre es reine Utopie gewesen, gleich etwas Großes in Gang bringen zu wollen, aber das Mögliche sollte versucht werden, wenigstens einer kleinen Zahl den Weg zur Resozialisierung zu ebnen.
Dazu wurde eine Legionsgruppe mit dem Namen „Mutter der barmherzigen Liebe" gegründet. Ihr Ziel war:
□ arbeitsfähige und arbeitswillige haftentlassene Männer,
□ die keine Wohnung haben und nicht zur Familie zurückkehren können,
□ in kleiner Gemeinschaft in einer Wohnung unterzubringen, und zwar in einem normalen Wohnmilieu
□ und sie - soweit nötig und möglich - zu betreuen, sodaß sie Menschlichkeit und Zuneigung erfahren,
□ das heißt Isolierung, Gettomentalität und Diskriminierung vermeiden, Vertrauen zur Gesellschaft undzu Gott fördern.
Es gab keine Erfahrungen
Ein Vorbild für ein solches Experiment gab es zu dieser Zeit nicht, Erfahrungen anderer konnten wir nicht nutzen, eine vergleichbare Institution gab es nicht, und die Erfahrungen von Personal in Haftanstalten sind für das Verhalten nach der Entlassung kaum zu verwerten. So blieb uns ein eigener Lernprozeß nicht erspart:
Die Wohnungssuche hat lange gedauert, viele Angebote sind gescheitert, da die Vermieter sich sperrten, wenn sie hörten, daß eine größere Zahl von Männern aufzunehmen wäre (von Haftentlassenen wurde gar nicht gesprochen). Schon schien es hoffnungslos, bis ein vornehmes, aber wirtschaftlich schwach gewordenes Ehepaar eine Großwohnung in ihrem eigenen Haus in Untermiete anbot.
Zwei sehr große Zimmer für je fünf Mann, ein kleines Zimmer als Büro, Versammlungsraum für die Legio und zugleich Schlafraum für den Übernachter, ein Kabinett als Tagraum, Küche, Klo und Badezimmer, alles verbunden durch einen schmalen Gang. Es war ein vornehmes Haus an der Fischerstiege im ersten Bezirk.
Die Bedingung, daß sich keine Männer ohne Aufsicht im Heim aufhalten dürfen, war hart, aber mit Rücksicht auf die Umgebung veständlich.
Die Wohnung war also gefunden, die Caritas unterschrieb den Vertrag und übernahm die Zahlung der Miete; Vorerst war noch alles leer, aber allmählich füllte sich die Wohnung mit geschenktem Mobiliar - an Ankäufe war nicht zu denken.
Unerwartet früh kam dann aber meine Stunde. Die Nachricht erreichte mich, daß in Stein am 3. Dezember 1970 ein Häftling entlassen werde. Er möge vom Bahnhof abgeholt und bei uns aufgenommen werden. Nun mußte ich aber in Aktion treten...
Und nun mußte es Schlag auf Schlag gehen: Mein Bettzeug brachte ich von Heiligenstadt herüber, und am Abend fand das wohl eindrucksvollste Treffen der Legionsgruppe, unterbrochen vom Salutschuß des verrußten Ölofens, statt. Dann war ich allein in der großen, öden Wohnung mit dem armen Kerl aus Stein, der trotz Gutmütigkeit den größeren Teil seines Lebens in Haft verbracht hatte. Für ihn war es die erste Nacht wieder in Freiheit, für mich war es die erste von 2.850 Nächten mit Haftentlassenen. Daß ich die Kraft und Nerven hatte, dies neben meinem Beruf an der Schule durchzustehen, ist mir heute noch ein Rätsel.
Manche Freude hatten wir an Männern, die bemüht und fähig waren, den rechten Weg zu suchen, die arbeiten wollten und einigen Charakter zeigten. Unterschätzt hatten wir freilich, daß es eben auch andere Typen gibt, für die unser System zur Resozialisierung nicht zielführend sein konnte. Alkoholiker (mit Drogensucht wurden wir wenig konfrontiert), Gewalttätige, auch wenn sie in nüchternem Zustand lieb sind, leider auch Schwache und Kranke, die Rücksicht und Pflege benötigten.
Nach drei Jahren gekündigt
Nun waren wir aber die ersten Jahre darauf angewiesen, ohne Kontrolle wahllos Männer aufzunehmen, die uns Fürsorger oder Seelsorger aus den Haftanstalten schickten. Die Folge davon: so mancher Wirbel, als schwerster Schaden aber der Einbruch eines unserer jungen Männer in ein „Schatz-kammerl" des Hausherren - mit der Folge der Kündigung zum Ablauf der dreijährigen Miete. Daß wir diese Wohnung im typisch bürgerlichen achten Bezirk zu mieten bekamen, gerade im letzten Augenblick, als wir kaum noch irgendeine Chance sahen, empfinde ich noch heute als Wunder.
Auch diese Wohnung bot Platz für zehn Mann in drei Schlafzimmern, einem Raum, der wieder als Büro-, Versammlungs- und Schlafraum für den Betreuer diente, eine kleine Küche, einem winzigen Fernsehzimmer und einem altertümlichen Bad.
Zu würdigen in diesem Haus war die Freundlichkeit der Hausmeisterin, die Zuneigung der Nachbarin und die Geduld der Nachbarn mit uns, die zweimal von uns verschuldete Wasserrohrbrüche und zweimal zerbrochene Fensterscheiben (Steinderlwer-fen beim Zuspätkommen) zu verkraften hatten. Komfort gab es auch hierin keinster Weise, aber wir waren bestrebt, es gemütlich zu machen - so wurde es unsere beste Phase.
In diese Periode fiel auch der gemütliche Besuch Kardinal Franz Königs und das Trittfassen von Herrn Karl Buchwald im Pastoralamt als Diplomsozialarbeiter. Erwarnunmehr für die Auswahl unserer Gäste zuständig und hielt uns nach Möglichkeit gefährlichere Elemente fern, indem er jeweils vor der Aufnahme eine Sozialanamnese vornahm, nach welcher er die Entscheidung traf. Mit der Einstellung von einem, dann vier Zivildienern begann auch die Entlastung für mich und die Legionäre...
Auszug aus „20 Jahre Wohngemeinschaften und Wohnungen des Vereins für Integrationshilfe 1971-1991".
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