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30 Betten für 10.000

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So habe ich mir einen Beamten des Gesundheitsamtes wirklich nicht vorgestellt: Er hat lange blonde Haare und trägt einen Schnurrbart. Dazu Bluejeans und eine alte Lederjacke. Und natürlich Tennisschuhe. Er ist 30, Vorarlberger. Wir sind gleich per Du. Er ist einer der beiden Beamten, die „mit grenzenlosem Idealismus“ (Wiens ÖVP-Stadträtin Gertrude Kubiena) hier, in Österreichs einzigem „Halfway-Haus“ für ehemalige Rauschgiftsüchtige, ihren Dienst verrichten und sich um neun Ex-Drogenabhängige kümmern, die in diesem villenähnlichen, aber einfachen Gebäude wohnen.

Das Haus am Wiener Stadtrand wurde im September des Vorjahres ohne Aufsehen eröffnet und ist als Zwischenstation zwischen Spital, wo die Entwöhnung durchgeführt wird, und endgültiger Freiheit gedacht. Es wird vom Anton Proksch-Institut in Kalksburg verwaltet. Hier wird den Jugendlichen die Möglichkeit geboten, wieder leben zu lernen. Es soll verhindert werden, daß sie abrupt in das kalte Wasser der Gesellschaft gestoßen werden, nachdem sie ihre Verbindungen zu den alten Suchtgiftkreisen abgebrochen und noch keine neuen Freunde gewonnen haben. Hier sollen sie sich akklimatisieren, um später wieder normal leben zu können. Hier wohnen Manfred, 22; Michelle, ebenfalls 22.

Im Haus kann man ein Jahr lang wohnen, dann muß der Bewohner, der 650 Schilling Miete im Monat zahlt endgültig ausziehen. Die Miete wird zum Teil bei ordnungsgemäßem Abgang als „Starthilfe“ zurückerstattet.

Man merkt es nicht, aber sie sind da: In Österreich gibt es nach Schätzungen von Experten 6000 bis 10.000 Süchtige beziehungsweise solche, die regelmäßigen Kontakt mit Drogen haben. Jeder dritte Schüler soll bedingt durch Lern- und Prüfungsstreß Aufputschtabletten, die zur Sucht führen können, nehmen. Für Entwöhnungswillige stehen in ganz Österreich nur 30 Betten für eine Langzeitbehandlung zur Verfügung. Ein Tropfen auf den heißen Stein.

Will ein drogenabhängiger Jugendlicher den Weg in das normale Leben zurückbeschreiten, muß er viele Monate auf einen Platz für die wirkungsvolle Langzeitbehandlung warten. Aus Therapiegründen werden im Anton Proksch-Institut, wo 15 solcher Betten zur Verfügung stehen, nur Drogenabhängige genommen, die älter als 18 sind, damit sie sich besser in die Altersstruktur der restlichen Patienten eingliedern können. Im Klartext: Ein Hjähriger, der süchtig ist, muß vier Jahre auf eines der 30 Betten warten. Bis dann ist er meistens hoffnungslos verloren oder gar an den Folgen seiner Sucht gestorben.

30 Betten für 10.000 geschätzte Süchtige. Ein paar Betten kommen in verschiedenen Krankenhäusern noch dazu, aber sie sind alle nicht für eine optimale Langzeitbehandlung geeignet. Primarius Günter Pern-haupt, Leiter der Drogenstation in Kalksburg: „Das ist enorm wenig. Wir haben viele Vormerkungen, die wir nicht berücksichtigen können.“

15 Betten in Wien, die restlichen 15 befinden sich in Tirol. In der Bundeshauptstadt sollen einige weitere hinzukommen, so ist es zumindest auf dem Papier vorgesehen. Der genaue Zeitpunkt steht freilich noch nicht fest.

Gertrude Kubiena wünscht sich darüber hinaus gemeinsam mit Günter Pernhaupt zusätzlich noch einen „Bahnhof: Ein zusätzliches Haus, um Entwöhnungswillige so lange zu betreuen, bis ein Bett für die endgültige Behandlung frei wird. Die Stadträtin auf die Frage, was die ÖVP im Wiener Gemeinderat für Drogenabhängige tut: „Sie vergessen, daß wir in Opposition sind. Aber wir brauchen mehr solcher Häuser. Auch solche, die Entwöhnungswillige noch vor der Kur betreuen, bis ein Bett in Kalksburg frei wird. Wenn die nicht regelmäßig betreut werden, gehen sie verloren.“

Günter Pernhaupt schert sich um die Oppositionsrolle wenig: „Tun? Tun tun sie alle nichts.“ Selbst der Wiener Landessanitätsdirektor Er-mar Junker gibt zu: „Es geschieht nichts. Was nützen mir Plätze für die Entwöhnung, wenn es keine scharfen Präventivmaßnahmen gibt?“

Michelle, die als Sekretärin in einem „schönen Büro“ arbeitet, hat sich eine Woche nach unserem Gespräch aus dem Staub gemacht. Vorher erzählte sie noch, wie das mit den Drogen so ist: „Wenn du wirklich etwas haben willst, dann hält dich kein Mensch und nichts zurück. Dann pfeifst du auf alles, das einzige worauf du ausgerichtet bist, ist die Droge. Bei mir hat sich allmählich alles um einen Ball gedreht. Dieser Ball war das Gift. Alle Interessen versiegen. Es zählt weder eine Beziehung zu den Eltern oder zum Partner. Es ist alles sekundär. Das einzige was für dich zählt ist: Wie kommst du heute zu der Droge? Wie komme ich zu Gift, Gift, Gift? Das war auch das Schlüsselerlebnis für mich, darum habe ich aufgehört.“

Michelle war fünf Monate im Halfway-Haus. Sie stammt aus einer sogenannten gutsituierten Familie. Mit 15 begann sie Hasch zu rauchen, mit 17 spritzte sie härtere Drogen. Vier Jahre lang. Sie begann einfach aus Interesse, weil es andere Menschen waren, weil es ein anderer Kreis war. So erpreßte sie ihren Freund, der früher selbst einmal süchtig war und es dann schaffte, ohne Drogen zu leben: „Entweder läßt du mich probieren oder ich gehe.“ Erließ sie probieren. Damit waren alle Brücken zur konventionellen Vergangenheit abgebrochen: „Wir hatten einen gemeinsamen Freundeskreis, die haben eigentlich alle geraucht, gespritzt nicht, aber durch die Nase inhaliert die meisten. Und wie man sich's gibt, das ist ja dann schon egal.“

Die Entziehungskur hat sie alleine' gemacht. „Ich habe es absichtlich ohne Medikamente oder sonstwas durchgehalten. Vor lauter Schmerzen bin ich gegen die Wand gerannt. Gliederschmerzen. Unbeschreiblich. SBhweißausbrüche. Ich hab' nicht einmal aufstehen können vom Bett, riäcrlher. 5ßinenWö2he lang war es ein Chaos. Als ich eine halbe Stunde halbwegs beinander war, habe ich gefragt, ob in Kalksburg ein Bett für mich frei ist. Ich habe Gott sei Dank sofort eines bekommen.“

Und wenn das Bett nicht gewesen wäre?

„Das Bett hat wesentlich zu meiner Besserung beigetragen. Ich hätte sonst gedacht, ja, ich schaffe es alleine. Und alles hätte wieder von vorne angefangen.“

Manfred hingegen ist eher ein Typ, der in sich gekehrt ist. Er ist nicht so euphorisch wie Michelle. Jeans und Modefrisur, ein Gesicht, das Vertrauen einflößt. Er ist nicht kontaktscheu, aber man merkt, daß er viel nachdenkt 4 vielleicht sogar zu viel. Sein Bruder stürzte sich mit 19 aus dem 13. Stockwerk eines Hochhauses. Der Bruder wurde von der Mutter bedrängt, die Matura ja mit Auszeichnung zu machen, die psychische Belastung hat er nicht ausgehalten.

Manfred spricht darüber genau so offen wie über seine Situation. Beinahe emotionslos. Er arbeitet zur Zeit als Ferialpraktikant in einer Fabrik.

Anschließend will er nach Israel, um in einem Kibbuz zu arbeiten. Dann möchte er es an der Hochschule für Angewandte Kunst in Wien versuchen. Die Zeichnungen in seinem Zimmer sind schön. Die farbigen, gewellten Linien eines surrealistischen Bildes sind lebensfroh. Er mag Jugendstil. Auf seinem Nachtkästchen hegt John Steinbeck in Taschenbuchausgabe.

Sein Vater war Alkoholiker, die Familienverhältnisse dementsprechend trist. Seine Suchtkarriere war typisch: Zunächst reichten Tabletten, um sich zu beruhigen. „Körperlich abhängig wird man davon nicht, aber sie beruhigen, wie bei einem Bierrausch.“ Dann Haschisch, man kommt in gewisse Kreise. „Ich war mit 15 aji Leuten interessiert, die ganz anders waren als jene, mit denen ich bis dahin verkehrt habe. Lehrersöhne und so. Bei Haschisch wird man eingeladen. Die Komplikationen mit meinen Eltern waren schon so kraß, daß ich fast hinausgeschmissen worden wäre. Dann kam Opium.“ Der Weg zur Entziehung war einfach. Eine Bekannte konnte nicht mehr mitansehen, wie es ihm ging. Sie sprach mit den Ärzten von Kalksburg, „mehr oder weniger unfreiwillig“ wurde er dann dort eingeliefert. Er bekam eines der 30 Betten.

Michelle und Manfred hatten Glück. Haben die beiden Angst, wieder mit dem Zeug anzufangen? Manfred liegt auf seinem Bett, schaut in die Luft. Er wartet offenbar auf eine Antwort von oben. „Ich nehme mir nichts fix vor. Ich kann nur eines tun: Ich kann an mir arbeiten.“

Michelle läßt sich auch Zeit. Sie antwortet nach einer langen Pause mit einem zögernden „Ja“. Sie hat ja schon einen langen Weg zurückgelegt. „Ich hätte es nicht geschafft, wenn es das Halfway-Haus als Abschluß der Kur nicht gegeben hätte. Da bin ich mir völlig sicher.“

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