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53 Prozent für die Guillotine

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Für jede funktionierende pluralistische Demokratie ist der reibungslose Ablauf der Justiz äußerst wichtig. Die oft wenig informierte öffentliche Meinung darf nicht Urteile erzwingen wollen, die gegen das Gesetz sind. Wohin würde es führen, wenn persönliche oder politische Einflüsse die Rechtsprechung beugen! Studiert man die Art des Amtierens von Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern in der V. Französischen Republik, werden naturgemäß Kritiken laut, da gelegentlich die soliden Grundlagen verlassen und Affären unter einseitigen Gesichtspunkten gesehen werden. Schon das Frankreich der III. Republik leistete sich durch die Infragestellung eines Urteils eine gefährliche Staatskrise. Die Causa Dreyfus, obwohl schon lange der Geschichte angehörend, ist auch heute noch in Paris so gut wie tabu. Unter de Gaulle und in der Epoche Pompi-dous waren Prozesse das auslösende Moment, um gewisse Probleme der gegenwärtigen Gesellschaftsordnühg ins Zwielicht zu rücken. Meistens wurden Konsequenzen gezogen; eine beschränkte oder umfassende Reform beseitigte Paragraphen, die mit den fortschrittlicheren soziologischen Strukturen nicht in Einklang zu bringen waren. Am Beispiel des Prozesses von Bobigny sei diese Feststellung illustriert.

Im Jahre 1971 wurde ein 17jähri-ges Mädchen, welches nach einer Vergewaltigung schwanger wurde, vor Gericht gestellt, da sie auf Rat der Mutter eine Abtreibung hatte vornehmen lassen. Die Verhandlung wurde von ganz Frankreich mit großem Interesse verfolgt und löste eine Reform aus, die die repressiven Gesetze des Jahres 1920 beseitigte und die jetzt vom Parlament votierte Fristenlösung zur Folge hatte. Wer denkt bei diesem Thema nicht sofort an den Richter Pascal, der sämtliche bisher bewährten Untersuchungsmethoden fallen ließ und die Nation aufrief, bei jeder Enquete, die schwere Kriminalfälle berührt, aktiv mitzuwirken —?

Im Oktober 1975 stehen nun neuerlich zwei Vorfälle, die an sich nichts miteinander zu tun haben, im Mittelpunkt der Diskussionen. Doch auch sie zwingen Regierung und Parlament, sich eingehend mit der Justiz des Landes auseinanderzusetzen.

Am 3. Oktober wurde von den Geschworenen der Stadt Beauvais der 17jährige Bruno T. zum Tod durch die Guillotine verurteilt. Zum letzten Mal hat man 1929 einen Minderjährigen hingerichtet. Im Zusammenhang mit diesem harten Spruch taucht wieder die Frage nach dem Sinn der Todesstrafe auf. Sämtliche Versuche, den „Monsieur de Paris“ (Spitzname des Henkers) in Pension zu schicken, scheiterten bisher. Eis ist eher das Gegenteil eingetreten. Frankreichs Gesellschaft ist durch unzählige Gewalttaten dermaßen in Angst und Schrecken versetzt, daß sie die Gefahr nur durch die sini-stre Maschine beseitigen zu können glaubt.

Das Urteil an dem jungen Gewaltverbrecher — er ermordete, gemeinsam mit einigen Kumpanen, eine ältere Witwe mit 16 Messerstichen, um sie zu berauben — wird von der Mehrheit in Frankreich als selbstverständlich und notwendig empfunden. Ani 15. März 1974 verkündete das demoskopische Institut SOFRES, daß nach Meinung der Franzosen die Justiz viel zu milde Urteile ausspreche. Im Jahre 1960 waren 39 Prozent der Bürger für die Todesstrafe; 1971 waren es ihrer bereits 53. Man kann annehmen, daß im gegenwärtigen Klima mehr als 70 Prozent die Arbeit des Scharfrichters befürworten. Selbstverständlich stößt dieser Ruf nach der Guillotine auf die Ablehnung zahlreicher Wortführer aus dem kirchlichen und dem Intellektuellenbereich.

Die Geschworenen von Beauvais wollten durch ihren Entschluß den jugendlichen Verbrechern ein Warnzeichen geben. Die schweigende Mehrheit ist nicht mehr gewillt, tatenlos zuzusehen, wie sich Zustände einnisten, die in manchen Zügen an Chicago oder New York erinnern. Es kann nicht abgeleugnet werden, daß in den letzten Monaten abscheuliche Gewalttaten von jungen Leuten begangen wurden. Unter dem Deckmantel politischer Kundgebungen schlichen sie sich in den Zug der Demonstranten ein und zerstörten vollkommen sinnlos Geschäfte, Banken und Büros von Fluggesellschaften. Schwerbewaffnet wüteten sie Ende September auf den Champs-Elysees, während die Linksparteien gegen die Exekutierung spanischer Untergrundkämpfer protestierten. Zahlreiche Soziologen stellten jedoch nach dem Urteil von Beauvais die Frage, ob man durch die Abschrek-kungsmethode die schweren Probleme der Jugend lösen könne. Über 650.000 jugendliche Arbeitslose suchen sich gegenwärtig fast ohne Erfolg in den Produktionsprozeß zu integrieren. Die Masse dieser Jungen und Mädchen kann jederzeit in den Dienst einer Revolution gestellt werden. Die Minderheit dagegen bildet Banden, wird von einer irrealen Zerstörungswut befallen und respektiert weder Leben noch Eigentum. Die Republik und ihre Gesellschaft waren bisher nicht fähig, der heranwachsenden Generation mehr zu bieten als die Pornowelle und den Konsumzwang. 5..

Auch ein zweites Ereignis markiert in diesen Wochen die Unsicherheit auf dem Sektor der Rechtsprechung.' In einem chemischen Werk, welches den verstaatlichten Kohlenbergwerken gehört, verunglückte ein Arbeiter tödlich. Frankreich zählt im Jahr über eine Million Arbeitsunfälle; 1974 waren es 4600 mit tödlichem Ausgang. Die Ar-beitsinspektorate bemühen sich, die Sicherheitsvorkehrungen in den Fabriken, die manchmal in einem skandalösen Zustand sind, zu-verbessern. Durch die Delegierung der Kompetenzen ist es schwierig, die verantwortliche Stelle im Betrieb ausfindig zu machen. Meistens müssen sich der Werkmeister oder der junge Ingenieur gefallen lassen, als Urheber eines solchen Unglücks hingestellt zu werden. Nach Meinung des Untersuchungsrichters Patrice de Charette handelt es sich bei einem tödlichen Arbeitsunfall um einen vorbedachten Mord. Nicht der kleine Angestellte sei dafür zu bestrafen, sondern der Spitzenmanager, der Generaldirektor. Der junge Richter, ein überzeugter Anhänger der kürzlich gegründeten linksorientierten Gewerkschaft der Richter und Staatsanwälte, wollte ein Beispiel setzen und ordnete, sechs Monate nach dem Ereignis, die Festnahme des leitenden Direktors des genannten Werkes an. Untersuchungshaft soll gemäß Justizminister Lecanuet nur in den äußersten Fällen verhängt werden; trotzdem sind unter den rund 30.000 Gefangenen der französischen Strafanstalten über 13.000 Untersuchungshäftlinge. Bei Direktor Chapron bestand weder Flucht- noch Verdunklungsgefahr — warum also verhaftete man ihn? Die zuständige Ratskammer ließ ihn zwar fünf Tage später wieder frei, aber die Herausforderung durch Patrice de Charette beschäftigt intensiv sämtliche Körperschaften, die mit der Rechtsprechung zu tun haben. Richter de Charette wollte, wie er selbst gesteht, den Maximen des Klassenkampfes in der Justiz zum Durchbruch verhelfen. Genau wie Richter Pascal — bezeichnenderweise amtieren die beiden Herren Zimmer an Zimmer im Justizgebäude von Bethune — vertritt er die Meinung, daß nicht die Armen und Unterdrückten die

Hauptschuldigen seien, sondern die Wohlhabenden und Einflußreichen. Beide Richter träumen mehr oder weniger offen von einer Volks Justiz und erkennen die Werte der Objektivität, welche die Justiz auf alle Fälle respektieren muß, nicht an.

Es ist klar, daß ein 17jähriger, der unter dem Fallbeil stirbt, in der Gesellschaft ein ungutes Gefühl hinterläßt. Es ist des weiteren klar, daß ein Mensch, der in Untersuchungshaft genommen wird, weil er der führenden Schicht angehört, ebenfalls zu einer gefährlichen Rechtsunsicherheit beiträgt. Frankreich wird nicht umhin können, nach diesen beiden Fällen eine umfassende Reform in die Wege zu leiten.

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