Aber sie lebten nicht in Amerika

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Anna Mitgutsch erzählt die Geschichte einer jüdischen Familie. Ihr Roman "Familienfest" geht zu den Wurzeln und sucht nach Identität.

Der Beginn verströmt bereits einen Hauch von Abschied. Noch einmal Pessach feiern wie früher und den "Strom der Familiengeschichte" anwachsen lassen. Zusammengefaltet in der Fülle verstrichener und versunkener Zeit entblättert sich langsam ein dichtes Erinnerungsgebirge, das sukzessive durchwandert wird. Dazwischen wölbt sich, rollt und wuchert das Leben. Familien verästeln und verzahnen sich, werden Teil eines riesigen Stammbaums, an dessen Anfang der jüdische Einwanderer Joseph Leondouri steht.

Generationenroman

Anna Mitgutsch hat einen beeindruckenden Generationenroman geschrieben, der sich tief hinein in menschliche Landschaften gräbt. Pessach, Thanksgiving und ein Begräbnis. Diese Zeremonien sind Anlass für Familienzusammenkünfte und öffnen die Schleusen der Erinnerung. Drei Kapitel und drei Protagonisten: Edna, Marvin, Adina. Um sie legt Mitgutsch ihr sorgfältig komponiertes Erzählgespinst. Es sind Puzzleteile eines Familienganzen, persönliche Geschichten dreier Familienmitglieder, die sich zusammenfügen und verknoten und doch nur zeigen, wie wenig man voneinander weiß.

Ein Gang zu den Wurzeln

Wie in "Haus der Kindheit" ist das Schicksal einer jüdischen Familie thematischer Herzpunkt des Romans. Hier geht es nicht um die Rückkehr eines Vertriebenen in eine fremd gewordene Heimat samt Fragen nach Schuld und Verdrängung. Dieser Roman schmeckt nach Erinnerung mit all ihren Zwischenlandschaften. Sie ist zugleich ein Gang zu Wurzeln und Schoß und hat vor allem zu tun mit Identität und rituell sich manifestierender jüdischer Tradition.

Präzise illustriert Mitgutsch die Ghettosituation der Einwanderer: "Amerika lag vor der Tür, aber sie lebten nicht in Amerika." Das Jiddische und Hebräische, der israelische Patriotismus. Die Kinder sollten Juden bleiben, aber "modern", "aufgeklärt" und "assimiliert".

Die 80-jährige Edna ist Zeugin der ersten Generation. Elegant, gepflegt, mit Sinn für Ästhetik und vor allem für die Familiengeschichte. Kurz bevor sie ihr Haus in einem exklusiven Bezirk Bostons verlässt, um in eine betreute Zweizimmerwohnung am Meer zu ziehen, deckt sie noch einmal den Sedertisch. Sie weiß, dass diese jüdische Mahlfeier zu einem Drama geworden ist, dem Protagonisten und Publikum abhanden gekommen sind. Die Tradition bröckelt unter Sinnentleertheit und fehlender Identifikation bei den jüngeren Verwandten.

Ednas Erzählen ist demnach ein Erzählen wider "Tod und Vergessen". Um ihren Vater und seine Auswanderung vom Orient nach Amerika ranken sich viele geheimnisvolle Geschichten. Auch hinter Edna liegt ein bewegtes Leben: Frühes Leid aufgrund eines Autounfalls. Amputation eines Fußes, zweite Heirat und drei Kinder. Sie bleibt, auch wenn andere in den Erzählstrom treten, Integrationsfigur dieses Romans.

Ednas Großneffe Marvin steht für die mittlere Generation und "für die unstillbare Sehnsucht nach etwas", das nicht zu haben ist. Den Rahmen für seine Erinnerungsrinnsale gibt das profane "Thanksgiving" ab. Marvins Frau konvertierte zum Judentum, sie liebten einander, der Unfall ihres Sohnes schweißte sie zusammen. Heute sehnt er sich glück- und ruhelos nach dem "erregenden Pulsschlag des Neuen".

Die erst 18-jährige Adina hält Edna für eine "echte Leondouri". In ihrem letzten Jahr hat sie ihre halbjüdische Großnichte besonders an sich gebunden und ihr ein Vermächtnis für die Zukunft mitgegeben. Eine vorsichtige Annäherung an das Gewesene beginnt. Ednas Begräbnis stößt Adinas Reflexionen an.

Kollektiv und persönlich

Mitgutschs Roman ist mehr als nur eine vielschichtige Familiengeschichte. Das Persönliche ist aufgehoben in der kollektiven Einwanderergeschichte und in der sich wandelnden Identität. Dabei erweist sich Mitgutsch als Meisterin der Personencharakteristik.

Im Sekundenstil wird ein schillerndes Familientableau entfaltet, dessen Protagonisten plastisch und wunderbar natürlich in die Seiten fallen. Egal ob Lebemensch oder glückloser Verwandter. Sie alle bewegen sich authentisch im komplizierten Familiengefüge, dessen zwischenmenschliche Matrix Mitgutsch sensibel auslotet und mit Atmosphärischem füllt. Gut, dass es zur Orientierung einen Stammbaum und ein Glossar für jüdische Begriffe gibt.

Mag sein, dass Mitgutschs Schreiben, wenn es genussvoll in die Seitenstränge treibt, einem fast den Überblick entzieht und manchmal langsam fließt. Dennoch beschert uns dieses breite Erzählen Lebensrealität und kraftvolle poetische Bilder. Miesmuscheln am Meer rauschen so: "Ihre blau schillernden Schalen atmeten kaum merklich im Rhythmus der Brandung, und man hörte den feinen Klang des Wassers, das zwischen den glatten Muschelrändern in ihr Inneres strömte." Edna, die das Meer geliebt hat, stirbt allein, "in der Stunde, in der die Sonne das Meer berührte". Jeder Morgen ein neuer Anfang.

Es gibt Familien, die man sich einprägt. Die Leondouris gehören zu ihnen.

Familienfest

Roman von Anna Mitgutsch

Luchterhand Verlag, München 2003

414 Seiten, geb., e 23,20

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