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Absage an Stalinismus

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Ungarns Ministerpräsident und Parteichef Käroly Grösz - zur Zeit auf Staatsbesuch in Osterreich - wird Ende des Monats als Premierminister zurücktreten. Sechzehn eher erfolglose Monate an der Spitze der ungarischen Regierung gehen damit zu Ende. Grösz sieht das selber ein. Sein Rücktritt als Regierungschef -schon im Mai mit der Übernahme der höchsten Parteifunktion angekündigt - ist als Folge der von der Ungarischen Sozialistischen

Arbeiterpartei (USAP) auf der Landesparteikonferenz am 20. Mai beschlossenen Entflechtung von Partei- und Regierungsgeschäften zu sehen.

Dem Kädär-Nachfolger Grösz werden von der ungarischen Opposition vor allem drei Fehler vorgehalten: Härte, was eine geforderte Rehabilitierung des 1958 hingerichteten 56er Ministerpräsidenten Imre Nagy betrifft; Taktieren bezüglich eines möglichen sowjetischen Truppenabzugs aus Ungarn; Weichheit gegenüber dem rumänischen Diktator Nico-lae Ceausescu in der Frage der Siebenbürgener Magyaren. Zudem greift noch keine einzige der wirtschaftlichen Reformmaßnahmen.

Unter den möglichen Grösz-Er-ben des Ministerpräsidentensessels befindet sich auch der ehemalige Volksfrontchef und Reformvorreiter, Imre Pozsgay, seit Mai Politbüromitglied und Leiter des neugeschaffenen Staatsministeriums. Mit dem beliebten Politiker — „es wäre Heuchelei zu sagen, Popularität sei für mich eine Last“ - sprach die FURCHE dieser Tage in Budapest.

Pozsgay deutete dabei an, daß die jetzige und die kommende ungarische Regierung erst in der Phase der „Vorbereitung der Reformen“ stehe. Uberwunden gehört nach den Worten des Staatsministers vor allem „die Falle“ jener poststalinistischen Strukturen im Partei-, Verwaltungs- und Wirtschaftsapparat, die zahlreiche Möglichkeiten der Torpedierung der Reformen bieten.

„Der Begriff der Reform wird nämlich tatsächlich entwertet,“ — so Pozsgay wörtlich — „wenn keine neuen Initiativen folgen. Jene, die eventuell sogar geneigt sind, die Reformen zurückzudrängen, beschwören nur allzu oft das Gespenst der Anarchie. Es geht darum, daß wir hinsichtlich der Reformbedürfnisse der Bevölkerung in Verzug geraten sind. Die Menschen zweifeln an den bestehenden Institutionen und sind ihnen gegenüber mißtrauisch, weil die vergangenen zehn bis 15 Jahre recht erfolglos waren.“

Welche Aufgaben hat die Partei dann künftig? Für Pozsgay besteht kein Zweifel, daß die im Besitz der Macht befindliche USAP „für die Verteilung der politischen Mittel in der Gesellschaft sorgen muß“, um den Menschen Zugang zu jenen Möglichkeiten zu schaffen, „die für den Aufbau einer zivilen Gesellschaft notwendig sind“. „Deshalb hat sich die Partei bei uns für den Pluralismus und für die Rechtsstaatlichkeit ausgesprochen.“

Noch immer sind in Ungarn aber die Folgen des Stalinismus zu spüren. Jene Kreise, die sich mit Machtteilung nicht anfreunden können, sind für den Staatsminister „Produkte, nicht Urheber des Stalinismus“. Es sei ein Fehler gewesen, die Stalinisten seinerzeit nicht vor Gericht zur Verantwortung gezogen zu haben. Heute, meint Pozsgay, sei dieser Weg nicht mehr gangbar.

„Umso deutlicher müssen wir aber die Grenze ziehen und ein für allemal mit dem bornierten Prinzip der Kontinuität abrechnen, das der heutigen Führung die Verantwortung für die Vergangenheit anlasten will. Wir müssen uns eindeutig vom Stalinismus abgrenzen und für verfassungsmäßige Garantien sorgen, die uns die Sicherheit geben, daß es in diesem Land zu keinen Menschenrechtsverletzungen mehr kommt.“

Vergangenheitsbewältigung ist in Ungarn offenbar angesagt -vor allem, was das Jahr 1956 betrifft, die tiefe Wunde im Herzen vieler Magyaren. Oppositionelle meinen immer wieder, daß eine-nach Wahrheit strebende offizielle Darstellung des Volksaufstandes 1956 das Vertrauen zwischen Volk und Partei fördern könnte. Imre Pozsgay arbeitet in einem Ausschuß an der Aufarbeitung dieses Problems mit.

Hinsichtlich der Bewertung der 56er-Ereignisse sei die ungarische Nation geteüt. „Gleichwohl, für wen wir jetzt Partei ergreifen würden - ob für die immer noch gültige Version (Konterrevolution, Anm. d. Red.) oder für die andere —, es würde*nur die Auflehnung der jeweiligen Gegenseite hervorrufen. Wir wollen zur Uberwindung dieses Widerspruches beitragen.“

In Ungarn soll nach den Worten Imre Pozsgays eine „freie, offene, sich von unten aufbauende Gesellschaft“ auf rechtsstaatlicher Basis entstehen, „wo der Pluralismus dominiert, wo Menschen aufgrund ihres subjektiven Rechts ohne Vorschriften der Behörden Vereine, politische Organisationen“- auch Parteien? - „in Gottes Namen auch Parteien gründen und ihre Interessen im Parlament vertreten“.

Viele Ungarn glauben, daß mit Imre Pozsgay die Entfaltung der Demokratie weiter voranschreiten würde.

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