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Abschaffung des Fracks

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1930 wurde das BBC Orchestra London gegründet, Sir Adrian Boult und Sir Malcolm Sargent waren seine ersten ständigen Dirigenten. Als Gäste empfing man bald Richard Strauss, Weingartner, Bruno Walter, Kussevitzky und Toscanini. Von Colin Davies übernahm es jetzt Pierre Boulez für drei Jahre. Im Großen Konzerthaussaal spielte es an drei Abenden.

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1930 wurde das BBC Orchestra London gegründet, Sir Adrian Boult und Sir Malcolm Sargent waren seine ersten ständigen Dirigenten. Als Gäste empfing man bald Richard Strauss, Weingartner, Bruno Walter, Kussevitzky und Toscanini. Von Colin Davies übernahm es jetzt Pierre Boulez für drei Jahre. Im Großen Konzerthaussaal spielte es an drei Abenden.

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Haydn (Symphonie D-Dur Nr. 104) faßt Boulez als einen großen Klassiker auf und befreit ihn gewissermaßen ganz von lokalen Zügen. Bei Mahler (9. Symphonie) gilt vor allem die Partitur, das Emotionelle wird zwar nicht unterdrückt, aber sehr gebändigt. Man hatte das Gefühl, daß Boulez in dieser Riesensymphonie jeder Note zu ihrem Recht verhalf, und manches klang neu, ungewohnt. Das Orchester scheint mit der Klanganalyse Mahlers, wie sie Boulez betreibt, vertraut zu sein und beeindruckte besonders durch seine noblen Blechbläser. — Im Unterschied zu den klassisch-romantischen Symphonien umschließen die beiden enormen Eck-Sätze zwei bewegtere: einen täppischen Ländler und ein Rondo-Burleske. Man sollte diese Neunte aber unbedingt allein aufs Programm setzen. Sie ist in jeder Hinsicht abendfüllend. Boulez verzichtete auf Frack und Dirigentenstab. Das schaffft von vornherein eine „sachliche“ Atmosphäre, die aber von seinem Temperament immer wieder wie von Blitzen durchzuckt wird.

Am zweiten Abend gab’s Debussy, Bartök und Schönberg. — Zu seinem großen Landsmann, der sich selbst Claude de France nannte, hat sich Boulez immer wieder in Wort und Schrift bekannt. Als einen Vater der neuen Musik hat er ihn früher auch entsprechend interpretiert, indem er die Strukturen und Linien überscharf herausarbeitete. Jetzt ist sein Debussy-Bild reifer, ausgeglichener. Er läßt „Trois Nocturnes“ von 1899 und „La Mer“ von 1905 einfach schön und deutlich spielen. — Dankbar sind wir ihm, daß er im dritten der Meeresbilder die Sirenen sehr gedämpft hat und nicht losjodeln ließ. Aber Boulez möge einmal ausprobieren, um wieviel suggestiver, geheimnisvoller und diskreter es ist, wenn die jungen Damen, etwa 20 an der Zahl, im Orchester sitzen!

Bėla Bartök hat die beiden Außensätze seines bereits klassisch gewordenen 2. Klavierkonzerts (seinerzeit ein echter Bürgerschreck) 1931 in Mondsee fertiggestellt. Aber man wird vergeblich Spuren der Landschaft darin suchen. Michel Beroff, ein junger Franzose mit russischem Namen, spielte hochmusikalisch und hrillant den Solopart. Dieser zarte Jüngling mit dem glatten kastanienbraunen Haar und dem Mädchengesicht wurde im Haus von Olivier Messiaen betreut und hat das Zeug zu einem ausgezeichneten Pianisten. Im Bartök-Konzert verstand er nicht nur zu hämmern, sondern auch legierissimo zu spielen. Es war eine reine Freude.

Über Schönbergs Orchestervariationen op. 31 aus dem Jahr 1928, deren Fertigstellung Furtwängler veranlaßte (der sie auch uraufgeführt hat), wurde an dieser Stelle schon mehrfach gesprochen. Hier wurde 20 Minuten lang in konzentriertester

Form expressive Musik gemacht. Man kann sich auch heute noch vorstellen, wie dieses Werk seinerzeit auf das Publikum gewirkt hat. Boulez und sein Orchester spielen das mit der größten Selbstverständlichkeit. Sie machen Musik ohne Frack (auch dem jungen Pianisten hat Boulez ihn abgeknöpft). Fast könnte man sagen: in Boulez-Kon- zerten herrscht Werkstattatmosphäre. Denn es gibt kaum einen Dirigenten, der so mit dem Rücken zum Publikum arbeitet und nur für die Musik und seine Musiker da ist. Trotzdem: Lautstarker und anhaltender Applaus.

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