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Abschied vom Genossen

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Werte Redaktion, auf Ihre Anfrage, wo Sozialismus noch erhältlich sei, antworte ich: nirgends. Zur Zeit, da Sozialismus am nötigsten wäre, ist er am unerreichbarsten. Vranitzky und Gorbatschow: beides probiert, kein Vergleich — außer in dem einen, alles entscheidenden Punkte: Sozialisten sind das beide keine. Wohin auch mein sozialismusgeübtes spögeschädigtes Auge schweifen mag: keiner da.

Unter den West- wie Ostgenossen ist das Suchen schon deshalb schwer, weil sie keine mehr sein wollen. Die vorandrängenden Vorläufer der dritten russischen Revolution (1905, 1917, 1988) betiteln einander mit „Bürger“ oder gar „Herr“. In Osterreich, erhoben Meinungsforscher, halten satte Zweidrittel der Parteimitglieder nichts von der Anrede „Genosse“.

„Und willst Du nicht Genosse sein, so schlag ich Dir den Schädel ein“ — diesen Reim erfanden in der Ersten Republik eingefleischte Feinde des Sozialismus. In der Zweiten Republik wollen die Genossen selber keine mehr sein — und weit und breit niemand, der ihnen deshalb den Schädel einschlüge. Sie sterben von selber ab.

Vor der Weltgeschichte als Weltgericht erweisen sich Kapita- und Sozialismus als Komplizen, wetteifernd in der Zerstörung von Natur und Seelen. Ehrenwerte Sozialdemokraten wie Helmut Schmidt und Bruno Krei-sky regierten als „ideeller Gesamtkapitalist“, welcher laut Marx das Gesamtinteresse des Kapitals besser vertritt als jeder einzelne Kapitalist. Marx hielt das für real unmöglich, doch längst straft jeder gute rote Manager ihn Lügen.

Unterdessen treten Oskar Lafontaine zur Linken und Francois Mitterrand zur Rechten als Transvestiten auf, beide stellen Frau Thatcher dar, der eine als Yuppie und der andre als Pappi.

Sozialismus gibt's bald keinen mehr, außer, außer... Ja, Genossen Kollegen Kameraden, laßt uns eine Vision entwerfen vom radikalen Vorwärtsschreiten zurück zu den reinen Quellen des roten Stromes, der heute schadstoffbeladen seinem Versiegen entgegensumpert.

Hinab zu den Müttern!

Die Mütter des Sozialismus sind die Anarchisten — nicht die Bombenwerfer, vielmehr jene edlen

Geister von Pierre-Joseph Proudhon bis Gustav Landauer, welche die Sozialisten und Marxisten immer schon warnten vor der Anbetung des großen Staates, jenem bürokratischen Ungeheuer, und vor dem Arrangement mit der großen Industrie in Gestalt immer höherer Löhne.

Sozialisten und Marxisten — an ihren schwächsten Punkten gepackt, ertappt beim Verrat des Sozialismus zugunsten von Staat, Bürokratie, Industrie - vergalten es den Anarchisten mit Todfeindschaft.

Die Axt an die Wurzel des Sozialismus wurde somit schon früh gelegt —1846 wurde sowohl Proud-hons „Die Philosophie des Elends“ geschrieben wie der Marx'sche Bannstrahl „Das Elend der Philosophie“ - über 140 Jahre dauerte es sodann, bis das Elend des Sozialismus so offenkundig wurde, wie es heute ist.

Das Rezept zur Wiedergeburt des dringend nötigen Sozialismus (eines Rezeptes zum Absterben des unnötig weitervegetierenden Sozialismus bedarf es nicht, man lasse der Natur ihren Lauf) — ist einfach genug.

Der Sozialismus, den wir nötig haben, muß abschwören dem Abgott Staat. Donnergetöse. Es erscheint der Sozialdemokrat Karl Renner von oben oder unten und ruft, was er immer rief: „Der Staat ist der Hebel zum Sozialismus“. Ja, Genosse Renner, dementsprechend schauen die beiden heute aus, der Totalstaat und der Nullsozialismus.

Sphärenmusik. Es erscheint, sicher von oben, der Anarchist Gustav Landauer und ruft (wie schon 1911, in seinem „Aufruf zum Sozialismus“):

Sozialismus sei „eine Gesellschaft von Gesellschaften von Gesellschaften; ein Bund von Bünden von Bünden; ein Gemeinwesen von Gemeinschaften von Gemeinden; eine Republik von Republiken von Republiken. Da nur ist Freiheit und Ordnung, da nur ist Geist“.

Heute ist der letzte kleine Umweltschützer in Attnang-Puch-heim kompetenter als der Wirtschaftsminister am Stubenring, was freilich noch kein Kunststück ist. Transfer aller nur möglichen Macht vom Staat herunter zur Gemeinde—das wäre neuer Sozialismus.

Der Sozialismus, den wir nötig haben, muß abschwören der gotteslästerlichen Hybris der Technik- und Industrieanbetung. Genosse Landauer, ehe Du in den roten Himmel verdientermaßen zurückkehrst, bleib noch ein bissei da. Und er ruft (wie schon 1907, in seinem Buch „Beginnen“):

„Sozialismus ist Rückkehr zur natürlichen Arbeit, zur natürlichen, abwechslungsreichen Verbindung aller Tätigkeiten, zur Gemeinschaft von geistiger und körperlicher, von handwerklicher und landwirtschaftlicher Arbeit, zur Vereinigung auch von Spiel und Arbeit... So fremd und seltsam es euch anmuten mag, dies ist der einzige Anfang eines Wirklichkeitssozialismus, der übriggeblieben ist.“

Nie noch war die Chance so groß zur Rückkehr von natur- und seelenvergiftender Großindustrie nach vorwärts zu sinnvollen Arbeitsplätzen in umweltfreundlichen Klein- und Mittelbetrieben, einschließlich und insbesondere Landwirtschaft. Das wäre neuer Sozialismus.

Ob sie das schafft, die alte Tante Sozialdemokratie?

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