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Abschied vom Poststalinismus

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Den Führungsanspruch der Kommunisten in einer - auch politisch - pluralistisch gewordenen Gesellschaft diskutiert ab heute die Landesparteikonferenz in Budapest.

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Den Führungsanspruch der Kommunisten in einer - auch politisch - pluralistisch gewordenen Gesellschaft diskutiert ab heute die Landesparteikonferenz in Budapest.

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Uber die Vorbereitungen zur heute, Freitag, startenden ungarischen Landesparteikonferenz in Budapest — der ersten seit 31 Jahren, zwei Jahre vor dem nächsten Parteitag—lachte schon der Karikaturist der Parteizeitung „Neps-zabadsäg“. In den hinteren Reihen einer von zahlreichen Anfragen geprägten Bezirksparteiversammlung flüstert ein begeisterter Genosse dem anderen zu: „Angeblich haben wir hinsichtlich der Pro-Kopf-Wortmeldungen bereits die Weltspitze erreicht.“

Der Zeichner hat so unrecht nicht. Von den etwa 850.000 Mitgliedern der Ungarischen Soziali-

stischen Arbeiterpartei (USAP) sollen etwa 200.000 zum Themenkatalog der Parteikonferenz mehr oder weniger kritisch Stellung bezogen haben.

Fest steht, daß Ungarns wirtschaftliche Entwicklung nicht jenen—vom Parteitag 1985 allzu optimistisch vorgezeichneten — Weg genommen hat, den das Land so bitter benötigte. Fest steht, daß das Vertrauen in die kommunistische Partei in Ungarn im Schwinden begriffen ist. Fest steht, daß in Ungarn - sowohl theoretisch wie praktisch - die Freizügigkeit der Person, die freie Meinungsäußerung — vor allem auf wissenschaftlicher Ebene — und die pluralistisch gestimmte politische Diskussion, allerdings noch ohne nennenswertes institutionelles Ergebnis, im Gefüge aller autoritär geführten osteuropäischen Einparteienstaaten am weitesten vorangekommen ist.

Als unbestritten muß aber gelten, daß den meisten Ungarn parteiinterne Probleme völlig egal sind. Mit dem Reformkommunismus ungarischer Spielart dürfte der Durchschnittsmagyare vorläufig solange zufrieden sein, solange ihm Devisen und ein Einkaufsbummel auf der Wiener Ma-riahilfer Straße frei zugänglich sind.

Diesem Befund müssen die ungarischen Kommunisten auf ihrer jetzigen Parteikonferenz Rechnung tragen, wollen sie nicht noch mehr Vertrauen verlieren. „Für den Sozialismus dürfen wir jedes Risiko eingehen“, meinte kürzlich

Rezsö Nyers, einer der Väter der 1968 eingeleiteten Wirtschaftsreform.

Was ist jetzt noch sozialistisch, wo gibt es Grenzen gegenüber der ungarischen pluralistisch gewordenen Gesellschaft? In der theoretischen Debatte in Ungarn will man „praxisbezogen“ bleiben. Ubereinstimmend wird von Parteitheoretikern betont, daß sich das System in den vergangenen 20 Jahren weniger mit repressiven Mitteln und mit Ideologie als mit der Hebung des Lebensniveaus und der schrittweise erfolgten Erweiterung des Spielraums für bürgerliche Freiheiten zu legitimieren suchte.

Trotzdem ortet man nach wie vor auch im ungarischen ,3e-formmodell“ das „in der UdSSR zwischen 1927 und 1953 herausgebildete stalinistische Herrschaftssystem“ - so unlängst der Historiker Ferenc Glatz in der Zeitschrift „Historia“.

Der Jurist und Soziologe Mihä-ly Bihari geht sogar noch weiter: „Die Geschichte des Sozialismus hat bewiesen, daß die Hauptherausforderung nicht der Kapitalismus ist, sondern die inneren Verzerrungen des eigenen, sich selbst reproduzierenden Machtsystems, seine zunehmende Hand-

lungsunfähigkeit und das Konstantwerden seiner systemtypischen Strukturkrisen.“ Die Gegenüberstellung von Sozialismus und Kapitalismus als Alternative könne daher nicht mehr aufrechterhalten werden. Es gelte also jene poststalinistischen Wesensmerkmale des Systems zu überwinden, die es in seiner Entwicklung hemmen.

Das hört sich ganz gut an, läßt sich von einer kommunistischen Partei — will sie eine solche bleiben — nie voll verwirklichen. Die Budapester Parteikonferenz wird sicherlich nicht den Weg zu einem Parteienpluralismus ebnen. Weder nach innen noch nach außen wird die Partei echten Pluralismus anstreben.

Versuchen also die ungarischen Kommunisten die Quadratur des Zirkels, wenn sie in einer „Reform des Institutionsgefüges Partei-Staat-gesellschaftliche Organisationen“ zwar nach wie vor eine führende Rolle beanspruchen, gleichzeitig aber der Partei eine „Selbstbeschränkung gegenüber dem legislativen, direktiven Einfluß“ auferlegen wollen, wie dies Jänos Barabäs, stellvertretender Abteilungsleiter für Agitation und Propaganda im Zentralkomitee der USAP, vor kurzem in Wien skizzierte?

Ministerpräsident Käroiy Grösz, den Parteichef Jänos Kädär seinerzeit aus der Provinz nach Budapest holte, spricht zwar im „Magyar Hirlap“ und im „Spiegel“ etwas großspurig von einem — „perspektivisch gesehen möglichen“ — Mehrparteiensystem in Ungarn, er kommt jedoch nicht um die Realität einer totalitären Partei herum: „Deshalb schließe ich die Möglichkeit der Existenz mehrerer Parteien aus dem politischen Institutsgefüge aus“ (zitiert nach „Magyar Hirlap“).

Modernisierung der Partei ist deshalb angesagt. Diesem Anliegen und wirtschaftlichen Fragen wird sich die Landesparteikonferenz voll zu widmen haben.

Das Wahlsystem innerhalb der Partei soll „demokratisiert“, Minderheitenrechte sollen erweitert werden. Nicht abgehen wül man von einer Stärkung der Parteidisziplin. Der innere Parteipluralismus darf—so Jänos Barabäs—jedoch nicht zu einer Fraktionsbildung einer Minderheit führen.

Die USAP will künftig nur noch mit politischen Mitteln arbeiten. Primitiv-marxistischen Auffassungen von allgemeiner Gleichheit erteilt man eine deutliche Absage. ,

Neue Wege sind auch in der Eigentumsdiskussion angesagt. Sozialistisches Eigentum dürfe nicht mehr nur mit staatlichem Eigentum gleichgesetzt werden. „Auch genossenschaftliches Eigentum ist sozialistisches Eigentum“ (Barabäs).

Die Erwartungen in die ungarische Landesparteikonferenz sind im In- und Ausland hochgeschraubt. In personellen Fragen wird die Konferenz wahrscheinlich keine sensationellen Ergebnisse bringen. Die Nach-Kädär-Ara hat zwar schon begonnen, der Kädar-Nachfolger (Käroiy Grösz?) ist noch nicht gefunden. Wen Kädär—der trotz merklicher Ermüdungserscheinungen noch immer große Autorität genießt — zu welcher Gelegenheit aus der Tasche ziehen wird, weiß niemand. Kädär jedenfalls - so ist aus informierten Kreisen zu hören — liebt keinen der vielfach genannten Kronprinzen.

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