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ABSCHIED VON DEN FEINDEN

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Mit der großen politischen Wende im Osten Europas kam auch ein neues Problem auf den Tisch, das bisweilen für die Oststaaten eigentlich kein „nationales" gewesen ist. Es war ein Problem, das in erster Linie Moskau anging und mit der Großmachtpolitik der ehemaligen Sowjetunion zu tun hatte. Wir denken hier an das Militärwesen der osteuropäischen sozialistischen Staaten, die 1990 ihre staatliche Unabhängigkeit zurückerhielten.

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Mit der großen politischen Wende im Osten Europas kam auch ein neues Problem auf den Tisch, das bisweilen für die Oststaaten eigentlich kein „nationales" gewesen ist. Es war ein Problem, das in erster Linie Moskau anging und mit der Großmachtpolitik der ehemaligen Sowjetunion zu tun hatte. Wir denken hier an das Militärwesen der osteuropäischen sozialistischen Staaten, die 1990 ihre staatliche Unabhängigkeit zurückerhielten.

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Im April 1991 wurde der Warschauer Pakt offiziell aufgelöst, jener Militärvertrag, der 1955 in der polnischen Hauptstadt auf Geheiß der Sowjetunion unter dem Parteisekretär Nikita S. Chruschtschow gegründet wurde und im östlichen Militärwesen der Sowjetunion eine absolute Vorherrschaft gewährte.

Das Militärbündnis von 1955 richtete sich in erster Linie gegen Westdeutschland und gegen die NATO. Heute wissen wir, da die Dokumente der siebziger Jahre größtenteils freigegeben wurden, daß der Generalstab des Warschauer Paktes in Moskau mehrere Offensiv-Pläne gegen West-und Mitteleuropa hatte, mit dem eindeutigen Ziel, im Falle einer Kriegsgefahr sofort handeln und militärisch in Aktion treten zu können.

Ich konnte vor kurzem mit ehemaligen hochrangigen ungarischen Generälen sprechen, die mir anhand von österreichischem Kartenmaterial in allen Details schilderten, welche Aufgabe ihre Armee gehabt hätte, wenn aus Moskau die Stunde X für eine Großoffensive ausgerufen worden wäre. Ungarische, rumänische, tschechoslowakische Armeen hätten dabei - mit sowjetischer Unterstützung -Österreich binnen zwei Wochen überrannt und somit den Weg nach Ober-Italien und nach Bayern für die Fortsetzung der sowjetischen Offensive freigekämpft.

Mit der politischen Wende in Osteuropa und mit dem Zusammenbruch der sowjetischen Hegemonie über diesen Teil Europas wurden selbstverständlich diese Offensivpläne der Russen hinfällig. Heute gehören sie der Geschichte an.

Die neuen Regierungen in Budapest, Warschau und in Prag begannen bereits 1990/91 mit großangelegten Reorganisationen , um die einst nach sowjetischem Drill erzogene und mit sowjetischen Waffensystemen ausgerüsteten Volksarmeen dem neuesten Bedarf nach umzugestalten. In Ungarn, Polen und in der Tschechoslowakei entstanden bürgerlich-demokratische Regierungen.

Die sogenannten Volksarmeen als solche verschwanden. Das Militärwesen wurde Schritt um Schritt politisch reorganisiert. Das bedeutete, große Teile der Generalität (eigentlich KP-Funktionäre in Uniform) schickte man in den Ruhestand, fähige junge Leute rückten nach, die schon „Kinder der Reformzeit" waren, selbst dann, wenn unter ihnen nicht wenige ihr KP-Büchlein oder die Militärakademie in Moskau absolviert hatten.

Die neu entstandenen National-Armeen wurden zahlenmäßig verkleinert (Ungarns Armee beispielsweise von 120.000 auf 75.000 Mann) und ihre Standorte disloziert. Früher, in der Zeit des Warschauer Paktes, war das Gros der Volksarmee gegen Westen disloziert. Das östliche Hinterland diente lediglich als Standort für Lagerräume und Werkstätten beziehungsweise - wie im Fall der Slowakei - als geheime oder weniger geheime Produktionsstätte von Militärausrüstungen und Waffenproduktion. Polnische Straßen und Eisenbahnlinien wurden - wenn sie das ebene Land in Ost-West-Richtung querten -

besonders in Ordnung gehalten und durch Sondereinheiten geschützt, auch in Friedenszeiten. Denn sie waren Aufmarschgebiete zur bestausgerüsteten „Speerspitze" der Sowjetarmee, zur sowjetischen Heeresgruppe in der DDR, die in ihrer „Glanzzeit" unter Parteichef Leonid Breschnew mehr als 400.000 Mann zählte und stets über das modernste Militärarsenal verfügte.

In Ungarn entstand 1990 bereits die alte Honved-Armee - eine nationale Armee, die ihre Tradition eigentlich auf den Freiheitskampf La-jös Kossuths gegen Habsburg 1848 zurückführen kann. Eine Honved-Armee existierte auch in der k.u.k. Zeit - allerdings durfte die Honved-Armee erst 1905 erneut Artillerie-Abteilungen haben; in Wien fürchtete man, oder besser gesagt, man traute nicht bedingungslos den „stets" rebellierenden Magyaren. Auch in der Zwischenkriegszeit unter Admiral Miklös Horthy führte die ungarische Armee den Namen Honved (eigentlich „Landwehr") und ging 1945 mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs unter. Jetzt, nach der politischen Wende, erhielten die Hon-ved-Truppen neue Uniformen (Foto) zugeschnitten nach ungarischer Tradition; sie wurden innerhalb von zwölf bis 18 Monaten im ganzen Land disloziert, also auch im östlichen Teil Ungarns.

Budapest will im Militärwesen einiges neu machen. Da man - gleich wie bei den anderen neuen Demokratien in Osteuropa -rasch eingesehen hatte, daß Ungarn (sowie Polen und die Tschechoslowakei) in absehbarer Zeit nicht Mitglied der NATO sein wird und im Brüsseler NATO-Hauptquartier keine Pläne existieren, den Wirkungskreis (und Schutz) der NATO über die jetzigen Ostgrenzen der NATO hinaus zu verlegen, versuchen die drei Staaten, ihre Militärdoktrin auf eigene Faust (und gestützt auf die eigenen ökonomischen Möglichkeiten) zu lösen.

Neue Waffen und neue Waffensysteme müssen möglichst bald die - bereits 1985 veralteten - sowjetischen Ausrüstungen ersetzen. Auf die neuen Waffen und Waffensysteme muß eine neue Generation von Offizieren ausgebildet werden. Die Verteidigungsminister der betreffenden Länder wissen, daß all dies enorme finanzielle Anstrengungen erfordert; und ihre Staaten sind nach 40 Jahren kommunistischer Mißwirtschaft bettelarm.

Es scheint, daß auch die NATO wenig Interesse zeigt, hierbei Hilfe zu leisten. Man hat das Gefühl, man will die „neuen Demokratien" als eine Art „Pufferzone" zwischen Ost und West haben. Sie sind noch immer für den Westen „suspekt", keineswegs, weil man glaubt, daß das noch „verkappte Kommunisten" sein könnten, sondern deswegen, weil in den Augen der westlichen Politiker ganzOst-europa (und ich meine hier den ehemaligen Ostblock) noch unsicher ist.

Mit den Streitigkeiten unter den Nationen und Nationalitäten hatte man weder in Washington noch in Bonn oder in Paris gerechnet. Der Zerfall Jugoslawiens und die anhaltenden bitteren Kämpfe auf dem Balkan warnt Westeuropa, mit Waffenlieferungen und Waffenhilfe in Osteuropa mehr als vorsichtig zu sein. Es liegt auch nicht im Interesse der westeuropäischen Großmächte, daß im Osten neue, starke Armeen entstehen - gleich, ob sich diese unter russischer oder polnischer Fahne versammeln. So will man in Ungarn in den nächsten Jahren das Armeewesen nach schweizerischen Territorialprinzipien aufbauen. Brigaden mit schnellen Eingreifreserven sollen entstehen.

Auch das österreichische Modell will studiert werden. Lajös Für, Ungarns Verteidigungsminister, ein begabter Autodidakt auf dem Gebiet des Militärwesens, beabsichtigt auch Luft-Descent-Einheiten aufzustellen, die in Notsituationen sofort einsatzbereit sind. Die Umrüstung der Armee soll nach neuesten Plänen bis 2010 ermöglicht werden - also im

Laufe von 16 Jahren. Neue Panzertypen müssen beschafft werden: die sowjetischen Modelle sind veraltet und verschlingen bereits bei Dislozierungen enorme Benzinmengen. Die ungarische Luftwaffe muß in jeder Hinsicht modernisiert und mit Bomber-Geschwadern ersetzt werden. Die Sowjets ließen den Ungarn, vielleicht wegen des Volksaufstandes 1956, keine eigenen Bombergeschwader: sie überwachten mit ihren eigenen strate-gischen Bomberkommandos die Westgrenze ihres europäischen Imperiums. Die Piloten-Ausbildung wirft auch Probleme auf: da man keine Flugzeugführer mehr in der Ex-Sowjetunion ausbilden läßt, muß vorerst ein Ausbildner-Korps „erzogen" werden. Wie man in der Schweiz hört, werden auf diesem Gebiet die Eidgenossen die Ungarn großzügig unterstützen. Ungarische Offiziere lernen heute an manchen westeuropäischen Militärakademien. Hier zeigt sich der Westen spendabel und stellte Budapest etliche Freiplätze für Honved-Offi-ziere zur Verfügung.

Die Tschechoslowakei beziehungsweise ihr Militärwesen ist ein Extrakapitel für sich. Die einstige CSSR-Volksarmee war eine Speerspitze des Warschauer Paktes gegen die Bundesrepublik und gegen Österreich. Das Gros der Armee befand sich im westlichen Teil der Sozialistischen Volksrepublik. Nach der „sanften Revolution" vom November 1989 und dem Sieg der Bürgerlichen in Prag wurde auch rasch mit der sowjetischen Dominierung im Militärwesen aufgeräumt.

Die tschechoslowakische Armee hatte einst westliche Tradition. Erst der Einmarsch der Roten Armee am Ende des Zweiten Weltkrieges und die Säuberungen unter demokratischen Offizieren dieser Armee machte Schluß mit dieser Vergangenheit. Karrieristen und Verräter nützten die Lage aus und machten gemeinsame Sache mit den Kommunisten, die nur ein Ziel hatten: die bürgerliche Demokratie zu vernichten und eine Rote

Tschechoslowakei zu errichten. Nach 1948 gelang ihnen dieser Coup, nicht zuletzt durch die tatkräftige Unterstützung seitens der Armee, an deren Spitze damals General Svoboda stand.

Die Geschichte des tschechoslowakischen Armeewesens zwischen 1948 und 1988 müßte noch geschrieben werden. Es würde eine aufregende Lektüre sein - voll mit Niedertracht, Verrat und menschlichen Tragödien, alles im Dienste der Kommunisten.

Am 1. Jänner 1993 hört die Tschechoslowakische Republik zu existieren auf. Es entsteht eine neue „Tsche-chei", bestehend aus drei Landesteilen Böhmen, Mähren und Schlesien. Der Versuch Prags 1990, ihr Land der NATO zur Verfügung zu stellen, das heißt die Armee der westlichen Militärallianz in irgendeiner Form anzubieten, scheiterte. Die NATO wollte keine osteuropäischen beziehungsweise mitteleuropäischen Verbündeten. So schlug der Prager Verteidigungsminister neue Wege ein. Es geschah dort fast dasselbe wie in allen in diesem Beitrag erwähnten Staaten: Dislozierung der Truppen, Verminderung der Zahl der Soldaten und

Reorganisation des Offizierskorps.

Mitten in dieser Arbeit kam dann die politische „Überraschung": die bevorstehende Unabhängigkeit der Slowakei.

Nun mußte man die Trennung auch auf dem Sektor des Militärwesens vorbereiten. Da die Slowakei bis heute Hort der Rüstungsbetriebe und der Rüstungsindustrie der CSFR ist, verliert Prag sein militärisch-industrielles Hinterland. Die Slowakei, deren nationale Armee jetzt im Entstehen ist, wird aus dem „gemeinsamen Arsenal" etwa 500 Panzer, 50 Kampfhelikopter, 100 Jagdflugzeuge und 400 Artilleriegeschützejeglichen Kalibers erhalten. In Preßburg spricht man davon, daß die gesamte Armee aus etwa 45.000 bis 50.000 Soldaten bestehen würde (bei einer Bevölkerungszahl von 4,5 Millionen Einwohnern). Für die Armee müßte Preßburg jährlich etwa 850 Millionen Dollar aufbringen, dazu fehlen die Mittel. Das Land ist bitterarm und entgegen allen Erwartungen der Slowaken denkt kein Staat im Westen daran, die Slowakische Republik militärisch zu unterstützen.

Eine Militärdoktrin hat die CSFR noch nicht. Die Slowakei arbeitet jedoch an einer solchen. Der Grundsatz ist - wenigstens soweit jetzt bekannt -, daß die Slowakei (und mit ihr auch alle Staaten der ehemaligen osteuropäischen Volksdemokratien) keine Feinde besitzen und somit ihr Militärwesen nach den Prinzipien eines friedlichen Zusammenlebens in Europa ausrichten wollen.

Das polnische Parlament, der Sejm, hat am 2. November die neue Militärdoktrin der Polnischen Republik verabschiedet. Danach besteht die Polnische Armee in Friedenszeiten aus 200.000 Mann und im Falle eines Krieges - Generalmobilmachung -sollen weitere 800.000 Soldaten zu den Fahnen gerufen werden.

Die neue Militärdoktrin besteht aus zwei Teilen: Der erste wird vom Generalstäb ausgearbeitet und wird als Militärgeheimnis eingestuft. Der zweite ist für die breite Öffentlichkeit bestimmt. Darin wird festgehalten, daß Polen kein Land als Feind betrachtet, gegenüber keinem Land territoriale Ansprüche hat und die Republik die bestehenden europäischen Grenzen voll und ganz anerkennt.

Die Dislozierung der Polnischen Armee wird neu überdacht. Es wird auch ein Sonder-Armee-Korps ins Leben gerufen, das als „Eingreif-Re-serve" in jedem beliebigen Teil Polens im Notfall rasch eingesetzt werden kann.

Das strategische Ziel der Polnischen Republik ist letztlich die europäische Integration, das heißt die Eingliederung in die politischen und militärischen Strukturen der EG.

Diskutiert wird auch, neben dem stehenden Heer eine mobile Natio-nal-Garde (Miliz) ins Leben zu rufen. Diese sollte im Bedarfsfall Polizei-, Feuerwehr- und Grenzüberwachungs-aufgaben übernehmen.

Die Spannungen in diversen Bereichen in Ostmitteleuropa - zum Beispiel heute zwischen Ungarn und der Slowakei wegen Gaböikovo - könnten die genannten friedlichen Vorstellungen rasch ändern und der Entwicklung der Dinge eine neue Richtung geben. Die Ängste sind da: insbesondere im Donauraum, wo heute Probleme auftauchen, die ihren Ursprung aus den unseligen und stupiden Friedensverträgen nach dem Ersten Weltkrieg haben und deren Lösung auf friedlichem Wege viel Geduld, Einsicht und politischer Klugheit bedarf.

Aber welcher Politiker oder welche „politische Kraft" ist fähig oder hat den Willen, diese humanen Prinzipien auch konsequent durchzuführen?

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