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Abschied von der Sowjetunion

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Nicht nur die Ära Gorbatschow, die im März 1985 hoffnungsvoll und die Welt herausfordernd begann, ist am ersten Weihnachtstag 1991 zu Ende gegangen. Auch der Sowjetstaat existiert ab diesem Zeitpunkt nicht mehr. Die Sowjetbürger, die es durch all die Jahrzehnte vielleicht nur auf dem Papier gegeben hat, haben ihrem Staat eine Absage erteilt.

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Nicht nur die Ära Gorbatschow, die im März 1985 hoffnungsvoll und die Welt herausfordernd begann, ist am ersten Weihnachtstag 1991 zu Ende gegangen. Auch der Sowjetstaat existiert ab diesem Zeitpunkt nicht mehr. Die Sowjetbürger, die es durch all die Jahrzehnte vielleicht nur auf dem Papier gegeben hat, haben ihrem Staat eine Absage erteilt.

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Eine Geschichte des Schreckens hat ihren Abschluß gefunden. Ob es ein Ende ohne Schrecken wird, läßt sich nicht voraussagen. Was mit der Abdankung des Zaren Nikolaus II. nach der bürgerlichen Februarrevolution am 2. März 1917 und mit der Machtergreifung durch die Bolschewiken nach der sogenannten Oktoberrevolution am 7. November 1917 begonnen hat, was den Nationen in einem übernationalen, geradezu a-nationalen Staatsgebilde an Hoffnung suggeriert wurde, hat sich als haltlos erwiesen.

Die Nationen und Nationalitäten der großen Sowjetunion gehen seit langem eigene Wege. Mit der Bildung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) am 17. Dezember 1991 in der kasachischen Hauptstadt Alma Ata, elf frühere Sowjetrepubliken sind dieser beigetreten, beginnt ein neuer Abschnitt der Geschichte der von Rußland abhängigen Staaten, wieder voller Hoffnungen, aber auch voll drohender Gefahren.

Es hat vor 1988 nie einen Präsidenten der Sowjetunion gegeben; es ist bezeichnend, daß der erste, der dieses Amt innehatte, Michail Gorbatschow, gerade an jener Funktion scheiterte, die dieses Amt kennzeichnen sollte: integrierender Faktor bei der demokratischen Umgestaltung der UdSSR zu sein, bei gleichzeitig aufrechterhaltenem „avantgardistischen" Führungsanspruch der Partei. So wurde Gorbatschow auch zum letzten Präsidenten der Sowjetunion.

Blutige Geschichte

Zu beweinen ist weder das Schicksal dieses Staatsgebildes noch das Schicksal Gorbatschows, der es gut mit dieser Union meinte und in bester Absicht handelte. Aber wie in der Erziehung ist nicht alles Gutgemeinte auch das tatsächlich Gute für die damit Bedachten. Die von Gorbatschow angestrebte Offenheit, Transparenz und Rechtfertigung der Politik vor dem Bürger entwickelte ihr Eigenleben. Da konnte es bald nicht mehr um die Anerkennung der Tatsache gehen, daß die Partei von oben eine gewisse politische und humanistische Emanzipation zuließ.

Da wurde erkannt, daß es Rechte gibt, die weder Staat noch Partei zugestehen können; Rechte, die dem Menschen als Menschen zukommen, die von Staat und den politisch legitimierten Parteien geschützt werden müssen. Es ist bezeichnend, daß sich in der ersten Phase der Gorbatschow-Ära, also etwa bis 1988, der wissenschaftliche Dialog zwischen Christen und Marxisten - ist dieser jetzt auch gestorben? - mit der Frage nach den Menschenrechten beschäftigte und die Sowjetgelehrten anzuerkennen begannen, daß es da vor dem Staat Rechte gibt, die dem Menschen als Menschen zustehen.

Wissenschaftlich wurde die politische Doktrin der Kommunisten in jenen Jahren ausge-

höhlt, weil sie sowieso hohl war. Durch die verordnete Glasnost entwickelte sich im Sowjetstaat Öffentlichkeit, das gefährlichste für eine geschlossene Doktrin. Plötzlich wurde die eigene Geschichte entdeckt, die weißen Flecken, die sich sehr bald als schwarze auf der Seele der Kommunisten sowjetischer Prägung herausstellten, enthielten eine schreckliche Wahrheit: die Wahrheit von der Lüge der politischen Machthaber. Hinter der Fassade einer genormten Polit-Rhetorik zeigte sich das blutige Antlitz des realen Sozialismus, der Millionen von Menschen auf dem Gewissen hatte.

Im Schatten Lenins,

Und da stand einer an der Spitze des so gebrandmarkten Staates, der behauptete, das alles ließe sich reformieren, verbessern. Der Leninist Gorbatschow hat nie diesen Schatten überspringen können. Als sich die Öffentlichkeit in den Sowjetrepubliken zu Wort melden durfte, reagierte sie - der man Ihternationalität mit der Muttermilch verordnet hatte - national. Solidarität wurde als Dienst am eigenen Volk begriffen.

Gorbatschow mußte zusehen, wie sich sogar nationale kommunistische Parteien bildeten, zuerst im Baltikum, und schließlich 1990 auch in Rußland selbst, 65 Jahre nachdem Stalin die RKP verboten hatte. Die Teilrepubliken wählten ihre eigenen Parlamente und Präsidenten, erklärten ihre Unabhängigkeit. Gorbatschow war plötzlich ein Generalsekretär ohne Partei und ein Präsident ohne Land. Er hat es lange nicht begriffen, konnte und wollte es nicht wahrhaben.

Anfang 1988 hat die Hanns Martin Schleyer-Stiftung in München ein Symposion zum Thema „Die Zukunft der sozialistischen Staaten" veranstaltet. Keiner der Referenten -Wolfgang Leonhard, Wolfgang Seiffert, Alexander Osadczuk-Korab, Paul Lendvai und andere - konnten auch nur annähernd sagen, wie sich die Sowjetunion weiterent-

wickeln wird. Festgehalten wurde damals, daß Gorbatschow es mit seinen Reformen ernst meint, daß man die Reformer unterstützen und die alten Kräfte ständig warnen müsse. Erkannt wurde die Sprengkraft des Nationalismus für die UdSSR.

Im Frühjahr 1991 fand ein Fortsetzungssymposion der Hanns Martin Schleyer-Stiftung unter dem Titel „Sowjetunion - was nun?" mit fast den gleichen Referenten statt. Enno von Loewenstem von der deutschen Tageszeitung „Die Welt" hat dabei folgendes festgehalten: „In einigen Wochen, Monaten, Jahren werden wir vor einer phantastischen Katastrophe im Osten stehen und unsere Politik wird sagen: Wer hätte das gedacht. Wie wäre es, wenn unsere Politik vorher denken würde, anstatt nachher zu jammern, wenn sie sich jetzt überlegen würde, was zu tun ist..." Aber es ist das Grundproblem jeder Politik, daß sie erfolglos ist, wenn sie nicht angenommen wird oder Ziele anvisiert, die sie konkret nicht erfüllen kann, mag sie noch so gut gemeint sein; Gorbatschow ist ein Paradebeispiel dafür.

Rußland, Weißrußland, die Ukraine, Moldawien, Armenien, Aserbeidschan, Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisien und Turkmenistan haben die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten gebildet. Noch ist vieles miteinander verflochten, Armee, Wirtschaft, Kommunikations- und Verkehrssysteme, anders ist es schon mit der Politik. Wieweit jetzt entflochten, was gemeinsam behalten wird, läßt sich noch nicht sagen. Einen Koordinationsrat wird es geben, jedoch keine gemeinsame Politik. Eine neuartige Union wird es jedenfalls nicht geben. Wieweit sich soziale Unruhen mit blutigen Auseinandersetzungen, völkerwanderungsartige Flüchtlingsströme gen Westen verhindern werden lassen, ist Sache der gesamten Welt. Isolationismus wird nicht helfen, Verdrängen der Probleme verschlimmert sie nur, bloße Worte schaden der Glaubwürdigkeit. Vielleicht entstehen jetzt auch die Vereinten Nationen neu.

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