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Abschied von liebgewonnenen Geschichtsbildern

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Daß meine differenzierende, auf der neuesten Forschungslage aufbauende Interpretation zur Moskauer Deklaration vom 1. November 1943 und der Instrumentalisierung derselben zu einer „Opferideologie" durch die Gründerväter der Zweiten Republik (FURCHE 11/1993) bei der Kriegsgeneration, die die Dinge aus der emotionalen Nähe miterlebt haben, keine Beifallsstürme auslösen würde, darauf habe ich mich gefaßt gemacht.

Für den Zeitzeugen schauen die Erlebnisse 50 Jahre später (Stichwort: Erinnerungsoptimismus) und von der verengten Perspektive persönlicher Rückschau doch ganz anders aus als aus der Sicht des „nachgeborenen" Historikers, der aus der Distanz eine Fülle historischer Akten und Aufzeichnungen für seine Interpretation zur Verfügung hat. Daraus erklären sich zum Teil die gewaltigen Interpretationsunterschiede zwischen Zeitzeugen und der „nachgeborenen" Forschung.

Das Argument von Herrn Dr. Rusch (FURCHE 13/1993, der Historiker dürfe über die Zeit des Nationalsozialismus kein Urteil ablegen, wenn er diese Schreckenszeit nicht selber miterlebt habe, mag in seiner von viel Autorität geprägten Generation sich großer Beliebtheit erfreuen, kann aber wohl von der seriösen historischen Forschung nicht ernst genommen werden. Oder meint Dr. Rusch gar, man dürfe über Auschwitz oder die Sklaverei im alten Rom nicht forschen und schreiben, wenn man sie nicht selbst miterlebt habe?

Die Argumente der Herren Dr. Ratz und Dr. Perko (beide FURCHE 13/ 1993) sind da schon emster zu nehmen, wollen sie mich doch mit den rechtsradikalen Revisionisten unter eine Decke stecken.

In der Tat gibt es in der Forschung heiße Debatten über den Vergleich Nationalsozialismus/Austrofaschis-mus, die Stärke von Österreichs Widerstand gegen Hitler (vor und nach 1938), Anschluß und Österreichs relative Opferrolle et cetera. Darüber kann man legitim diskutieren.

Der Hauptpunkt meiner Ausführungen - und darauf geht keiner der

Leserbriefschreiber ein - war sich zu vergegenwärtigen, wie die politischen Eliten nach dem Krieg die Moskauer Deklaration ganz bewußt dazu verwendet haben, Österreichs „Opferrolle" im Zweiten Weltkrieg zu konstruieren. Daraus ist im österreichischen kollektiven Gedächtnis der Mythos von den Österreichern als einer Nation von „Opfern" entstanden.

Die (Mit)täterschaft vieler „Donau-und Alpengauer" an den unsäglichen Verbrechen des NS-Systems geriet darob schnell in Vergessenheit. In der Tat waren die Österreicher „teils Opfer, teils Täter" wie Dr. Perko schreibt. Noch wichtiger ist es, festzustellen, daß die wahren Opfer die jüdischen Mitbürger, Zigeuner, Euthanasieopfer, Zwangsarbeiter, und, ja, auch Widerständler et cetera waren, nicht die NS-Parteimitglieder und unzähligen Mitläufer, die nach dem Krieg die „Opferrolle" für sich in Anspruch nahmen, die von der Regierung (und den Westmächten) mit der Instrumentalisierung der Moskauer Deklaration geliefert wurde.

Erst die jüngste Forschung von „Nachgeborenen" hat die Täterschaft in den Vordergrund gestellt - sei es die der vielen „ostmärkischen" Schlächter in den Konzentrationslagern, der Ariseure von 1938, aber auch so mancher „ostmärkischer" Wehrmachtangehöriger, -die von der NS-Ideologie schon als Illegale und Hitlerjungen infiziert, den Erobe-rungs- und Vernichtungskrieg Hitlers mit zum Teil gar nicht so geringer Begeisterung mitgemacht haben! Vor einer harten Diskussion darf man nicht zurückschrecken.

Es ist nicht untypisch für die Kriegsgeneration, der jungen Historikergeneration Nestbeschmutzung vorzuwerfen, wenn sie solche Fragen sehr kritisch aufs Tapet bringt. Sie aber zu diskreditieren, indem man sie der Handlangerei für den Rechtsradikalismus zeiht, heißt jede Diskussion zu unterbinden. Sollen nun kritische Historiker damit abgewürgt werden, daß man sie als rechtslastige „Gesinnungstäter" karikiert? Wie lange noch wollen die Österreicherinnen an liebgewonnenen Geschichtsbildern festhalten, die nur entfernt der historischen Wirklichkeit entsprechen? Cui bono?

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