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Abschied von „No future“£
Die Machthaber in den Staaten des realen Sozialismus dürfen sich fürchten - nicht so sehr vor den NATO-Rake-ten als vor der Generatio-nenablose: Osteuropas Studenten emanzipieren sich.
Die Machthaber in den Staaten des realen Sozialismus dürfen sich fürchten - nicht so sehr vor den NATO-Rake-ten als vor der Generatio-nenablose: Osteuropas Studenten emanzipieren sich.
Lethargie und politische Desillusion sind neuem Tatendrang gewichen. Konformismus ist unter den Studenten out, Eigenitiative in.
Auf Einladung der Österreichischen Hochschülerschaft auf Besuch in Wien schilderten Repräsentanten von ZSMS (Slowenien), FTDESZ (Ungarn, FURCHE 26/1988) und NZS (Polen) ihren Kampf um politische Emanzipation.
Die Methoden sind verschieden, das Ziel ist das gleiche: Demokratie. FTDESZ, die Vereinigung Junger Demokraten in Ungarn, hat den Kampf um Verfassungsänderung (FURCHE 21/1989) auf ihre Fahnen geheftet Nach Ansicht Anzelm Ba-ranys, des Sekretärs der Vereinigung, ist die Verankerung der Menschenrechte in der Verfassung Grundvoraussetzung, um den Demokratisierungsprozeß der Gesellschaft abzusichern. Deshalb bestand eine der jüngsten Aktionen von FTDESZ in einer Unterschriftenaktion, um aufoktroyierte Abgeordnete abzuberufen
Der legalistische Drang ist bei FTDESZ nicht zuletzt deshalb so stark ausgeprägt, weil im Gründungskomitee hauptsächlich Juristen saßen. Inzwischen hat die Vereinigung ihre Tore weit geöffnet und auch junge Arbeiter und Angestellte sind nun mit von der Partie. Nur die Hälfte der4.000 Mitglieder sind Studenten.
Chronischer Geldmangel verhindert, daß man eine eigene Zeitschrift herausbringen kann, um noch breitere Schichten der Jugend ansprechen zu können. FTDESZ war infolge des Scheiterns des offiziellen (Partei)-Jugendverbandes KISZ gegründet worden: „Die engagierte Jugend fühlte sich politischheimatlos“, sagt Barany. Die Mitgliederzahl von KISZ hat sich inzwischen auf die Hälfte reduziert Bei Kundgebungen bringt KISZ „kaum jemanden“ auf die Beine.
Der polnische Verband Unabhängiger Studenten (NZS) war - obwohl offiziell „nicht-existent“ - an den Gesprächen am runden Tisch beteiligt. NZS wurde zum selben Zeitpunkt wie Solidarnosc gegründet und wie die freie Gewerkschaft nach Verhängung des Kriegsrechts in den Untergrund gedrängt. Man teilte die Verfolgung und auch die Ressourcen: NZS-Mitglieder leisteten Botendienste für Solidarnosc und stellten Publikationen für die freie Gewerkschaft her; Solidarnosc wiederum unterstützte finanziell die ausgehungerten Studenten.
Deshalb wird NZS auch von den streitbaren Gewerkschaftern gerne als „jüngerer Bruder“ tituliert
Seit einem Jahr ist man bei NZS dazu übergegangen, Happenings im Stil der Orangenen Alternative (FURCHE 17/1988) zu veranstalten. Slawomir Gorecki, Philologiestudent aus Warschau und Mitglied der Führungsmannschaft des Verbandes, erläutert die Spektakel-Strategie: „Jahrelang haben wir brav Petitionen an die Behörden geschickt Aber man hat uns völlig ignoriert“ Mit 30.000 Mitgliedern ist der Verband nicht nur die größte Studentenorganisation Polens, sondern auch die ideenreichste.
Um den Militärdienst während des vierten Studienjahres, an dem auch Studentinnen teilnehmen müssen, abzuschaffen, begann man im Herbst vergangenen Jahres mit dem Boykott der lästigen Zwangsveranstaltungen. Aus Pappschachteln bastelten die Studenten Panzer und Raketen und zogen vor die Militärgebäude. „Offiziere“ mit riesigen Orden und lächerlichen Mützen stolzierten auf und ab. Auf Plakaten nahm inanWojciech Jaruzelskis Politik auf die Schippe: „General, wir lieben die Armee!“ oder „General, wir wollen Krieg statt studieren I“ stand da zu lesen. NZS hatte nicht nur die Lacher - und die westlichen Medien -auf seiner Seite. Der Boykott wurde landesweit durchgeführt eine Unterschriftenaktion begann. Die Behörden verfielen in Panik. Eiligst wurden Gespräche mit den Studenten aufgenommen und Erleichterungen zugestanden.
Im Gegensatz zu NZS und FI-DESZ ist der Bund der Sozialistischen Jugend Sloweniens (ZSMS) keine Gründung der oppositionellen Studentenschaft In Slowenien hat man sich der Transformation der Inhalte der bestehenden Regimeorganisation verschrieben. Na-talija Gorscan, Publizistikstudentin, verteidigt den slowenischen Weg gegenüber den Kollegen aus Polen und Ungarn: Warum soll man die so bitter nötige finanzielle Unterstützung des Staates wegen eines neuen Namens verHeren? Die engagierte Jungjournalistin erklärt „Proteste und Revolutionen anzetteln bringt nichts. Wir versuchen sowohl innerhalb als auch außerhalb der schon bestehenden Institutionen zu arbeiten, legale und illegale Methoden kombiniert zu verwenden.“ Die Beibehaltung des Etiketts hat aber auch schon Ärger gebracht Die Zusammenarbeit mit katholischen Jugendgruppen ist geplatzt, „wegen des alten Namens“. Natalija bedauert: „Wir arbeiten doch schließlich für dieselben Ideale.“
Derzeit sind die Studenten von ZSMS stark mit Solidaritätskundgebungen für die bedrängten Albaner im Kosovo beschäftigt Auf Flugblättern und Plakaten sieht man Soldaten, die mit Gewehrkolben brutal auf Albaner einschlagen. Dazu der Text: „Slowenen, es geht um eure Freiheit 1“
Das studentische Frühlingserwachen kam selbst für die Beteiligten überraschend. Obwohl man auch Gorbatschow einen Bonus zugesteht, gibt man Initiativen im eigenen Land den Kredit Jahrelang hätten slowenische Intellektuelle geistig den Boden dafür vorbereitet, betonen die ZSMS-Leute.
Alexander Pecnik, Medizinstudent aus Ljubljana (Laibach), hat einige Jahre in Deutschland verbracht Schon am Gymnasium ging er für Solidarnosc auf die Straße demonstrieren. „Als ich nach Slowenien zurückkehrte, war ich von der Gleichgültigkeit der Leute in Sachen Politik ziemlich überrascht Wenn ich Diskussionen begann, war es, als, ob man mit Steinen redete.“
In den vergangenen zwei Jahren habe sich die Lage aber „dramatisch“ verändert Alexanders Kollegin Natalija reflektiert über ihren persönlichen Gesinnungswandel: „Früher war Politik nur etwas für Karrieristen.“ Wenn jemand aktiv wurde, hieß es, daß derjenige „hinaufkommen“ wolle.
Natalija fühlte keine Ambitionen in diese Richtung. „Aber ich dachte mir dann: Warum sollen nur solche Typen Politik machen? Ich werde auch mitmischen Es gab auch andere Studenten, die so ähnlich dachten“ , stellt sie zufrieden fest Es gäbe noch immer Leute vom Typ „Funktionär“ im ZSMS - die Mehrheit aber sei idealistisch motiviert
In Polen dämmerte die junge Generation, Folge der Verhängung des Kriegsrechtes, jahrelang im Ungeist des „No-Future“ dahin. Dies ist nun vorbei Seit letztem Jahr hat eine neue Welle des Widerstandes sogar die Grundschulen erfaßt Teenager kommen zum NZS und erbitten politischen Nachhilfeunterricht NZS-Leiter Gorecki lobt: „Sie haben uns mit ihrem frischen Geist angesteckt Diese jungen Leute sind die Seele der Bewegung.“ Er selbst hat seine „Karriere“ im Widerstand ebenfalls als Gymnasiast begonnen.
Zurück zu FTDESZ: Anzelm Barany entstammt einer katholischen Familie. Sein Vater war noch Sekretär der Kleinbauernpartei gewesen. Zu Hause galt das Wort „Kommunist“ als Schimpfwort. Die Gründung der polnischen SoÜdarnoscgab auch Ungarns Opposition neuen Auftrieb.
Anzelm wurde zum Stammkunden der Samisdat-Boutique von Rajk. Als aber vor einem Jahr FTDESZ gegründet wurde, war er völlig überrascht. Dieser Schritt kam ihm ziemlich gewagt von „Ich konnte es einfach nicht glauben, daß das möglich war.“
Vier seiner Freunde saßen im Gründungskomitee und da trat er sofort FTDESZ bei. Die politischen Leitbilder sieht FTDESZ in den Helden der Revolution von 1848und 1956. Besonders Istvan Bibo gilt als moralisches Vorbild, nicht zuletzt weil er mit dem Kadär-Regime keinen Kompromiß geschlossen hatte.
Politisch tendiert man in Richtung Sozialdemokratie, obwohl „Sozialismus'' ein diskreditierter Begriff ist, sodaß „niemand etwas damit zu tun haben möchte“. Auf theoretischer Ebene finden die Werke von Popper, Hajek und Ko-lakowski großen Zuspruch unter den FTDESZ-Leuten.
Ein weiterer Dom im Auge der Studenten ist der obligatorische Unterricht im Marxismus-Leninismus an den Universitäten. NZS beispielsweise ist dazu übergegangen, die lästigen Pflichtvorlesungen für eigene Agitation zu nützen. Ausgerüstet mit Publikationen, die andere Standpunkte darlegen, bringen die jungen Polen die Wächter der „wahren Ideologie“ ins Schwitzen beziehungsweise in Verlegenheit.
Manche Lektoren schlagen sich gleich zu Vorlesungsbeginn auf die Seite der aufmüpfigen Jungintelligenz: „Wie ihr wißt, ist dies eine Vorlesung über marxistische Ökonomie. Nun werde ich euch zeigen, warum das System nicht funktioniert.“
In Slowenien wird am Institut für Politologie und Publizistik in Laibach Ideologieunterricht zwangsverordnet. Publizistikstudentin Gorscan schränkt aber ein; „Bei uns sind nun sogar die radikalsten Marxisten liberaler geworden. Das Ganze geht schon stark in Richtung Sozialdemokratie. Ich glaube, daß der Marxismus im Westen populärer ist als bei uns. Als ich Kommunisten aus Amerika, Frankreich und Deutschland traf, war ich richtig schockiert.“ Uberhaupt sei die Tendenz - weg vom alten Parteiensystem, hin zu Initiativen, die die Probleme aller betreffen - wesentlich im Ansteigen.
Sorgen bereitet den Studenten aus allen drei Ländern die soziale Situation der Akademiker. Diese werden in der Regel schlechter entlohnt als die Arbeiter.
Die polnischen Studenten hängen finanziell stark von Ferienjobs im Westen ab. Das Höchststipendium von mageren 16.000 Zlotys monatlich reicht nicht einmal für den Kauf der Grundnahrungsmittel aus.
Abertrotz der schwierigen Situation ist der Optimismus der Studenten ungebrochen. Die polnischen Studenten wollen „eine neue Kultur, eine neue Tradition aufbauen“. Die Slowenen sinnieren darüber, ob und wie sie ihr Land in den Europarat bringen.
Der Erfolg dieser unabhängigen Studentenorganisationen wird aber auf jeden Fall in nicht geringem Maß von der Unterstützung abhängen, die sie von westlichen demokratischen Institutionen erhalten.
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