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„Abschreckendes Beispiel“

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Dimitri F. Michejew wurde 1941 im sibirischen Krasnojarsk geboren. Sein Vater war Pilot, seine Mutter Lehrerin. Von 1961 bis 1970 studierte er an der Moskauer Universität Physik und Mathematik und arbeitete gleichzeitig in der Forschungsabteilung des Institutes für nukleare Physik.

Politisch aktiv wurde Michejew, nachdem Nikita Chruschtschow im Oktober 1964 seiner Staats- und Parteiämter enthoben worden war. Die sowjetischen Intellektuellen erhofften sich damals von der neuen Führung eine gewisse Liberalisierung und begannen sich mit Problemen auseinanderzusetzen, die unter Stalin und Chruschtschow für die öffentliche Auseinandersetzung noch tabu waren.

Als Präsident des „Diskussions-Klubs“ der Moskauer Universität setzte Michejew Vortragsund Diskussionsabende auf das Programm, in denen eben solche „heißen Eisen“ aufgegriffen wurden. Themen der stark besuchten Veranstaltungen waren etwa: „Die Freiheit der Kunst“ oder „Der Zynismus und das Problem der öffentlichen Ideale“.

Gerade hinter letztgenanntem schwulstig klingenden Titel verbarg sich hochexplosiver gesellschaftspolitischer Sprengstoff. Michejew erklärt, warum: „Wir wollten damals herausfinden, warum die Leute sich weigerten, der offiziellen Propaganda zu folgen. Die Antwort war einfach: weil die Propaganda log und die Leute das auch erkannt hatten.“

Anstatt der erhofften „weicheren Welle“ des Regimes schlug die neue Führung unter Breschnew genauso hart zu wie die Machthaber zuvor: Der Geheimdienst KGB wurde auf die unbequemen Zeitgenossen angesetzt, Regimekritiker aus ihren Ämtern entfernt.

Michejew war sich nach der Invasion der Warschauer-Pakt-Truppen in der ÖSSR im August 1968 endgültig klar: in der Sowjetunion wollte er nicht mehr leben. „Es war wie in einem riesigen Gefängnis, aus dem ich entfliehen wollte“, erinnert er sich zurück.

Am 3. Oktober 1970 war es soweit: Mit dem Reisepaß eines Schweizer Bekannten unternahm er einen Versuch, außer Landes zu kommen. Die Flucht mißlang, denn der KGB weit über das Vorhaben Michejews längst unterrichtet gewesen, hatte er doch über ein in der Wohnung des Dissidenten installiertes Mikrophon die Fluchtpläne bis ins kleinste Detail mitverfolgen können.

„Ich war damals einfach zu naiv und wollte es nicht glauben, daß der KGB, ja das ganze Regime soviel Geld und Zeit aufwenden, soviel Spitzel auf einen kleinen Mann wie mich ansetzen würden. Für mich war das ganze ein Fluchtversuch, für sie eine große imperialistische Affäre gegen den sowjetischen Staat“, urteilt Michejew heute.

Dementsprechend sah dann auch das Urteil gegen den wegen „Betruges am Vaterland“ Angeklagten aus: sechs Jahre Arbeitslager mit verschärften Bedingungen. Im Mordovia-Lager Nr. 19 und im Ural-Lager Nr. 37 schwitzte Michejew sechs Jahre für sein „Vergehen gegen den Sowjetstaat“.

Unterdessen arbeitete der kommunistische Propagandaapparat auf Hochtouren: Die größten Zeitungen und Zeitschriften des Landes beschäftigten sich mit dem „Fall Michejew“. Den Sowjetbürgern sollte er als „abschreckendes Beispiel“ präsentiert und damit demonstriert werden: „So weit kommt einer, der unter westlichem Einfluß steht!“

1976 wird Michejew entlassen. In Kiew arbeitet er als Hilfsarbeiter und Nachtwächter, einen festen Arbeitsplatz als Akademiker bekommt er nach Interventionen des KGB keinen mehr. Im Frühjahr dieses Jahres wird schließlich seine schon in den sechziger Jahren geschriebene autobiographische Novelle „Der Idealist“ entdeckt. Vor die Entscheidung gestellt, ihn erneut zu inhaftieren oder ihn auszuweisen, entschließen sich die Behörden, ihn endgültig loszuwerden: Am 25. Mai dieses Jahres kommt Michejew mit seiner Frau Nelly in Wien an...

Das damit scheinbar abgeschlossene Kapitel Sowjetunion hat Michejew aber freilich noch längst nicht verdaut. Exklusiv für die FURCHE hat er nun eine Serie verfaßt, deren ersten Teil wir auf dieser Seite abdrucken. Seine Analyse der sowjetischen Gesellschaft baut auf die langjährige Erfahrung als Bürger dieses Landes und auf die Erkenntnisse, die er als politischer Aktivist und schließlich politischer Häftling von den inneren Abläufen des totalitären Machtapparates gewonnen hat. Frische Erinnerungen aus der jüngsten Zeit geben seinem Bericht eine besondere Aktualität.

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