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Abtreiben wegen Behinderung?

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Drei Äußerungen im Laufe des letzten Halbjahres mahnen zur Wachsamkeit. Die erste: Bei der Eröffnung einer humangenetischen Beratungsstelle in Wien im Sommer 1986 äußerte sich der diese Stelle betreibende „Verein zur Förderung der Humangenetik“ über seine Beratungsethik. Im Falle einer genetisch bedingten Störung wie Mongolismus rate die Beratungsstelle zur Abtreibung. Zu den vererblichen und vor der Geburt diagnostizierbaren Krankheiten zählen nach

Aussage der Beratungsstelle im übrigen auch „Asthma, Diabetes, Psoriasis, Gicht und Gehörlosigkeit“.

Auf ähnlicher Wellenlänge liegt die zweite Begebenheit: In einem doppelseitigen Artikel über Mongolismus in der Zeitschrift „Medizin Populär“ der Österreichischen Ärztekammer, die vornehmlich in Ärztepraxen aufliegt, wird auch auf die Möglichkeit der vorgeburtlichen Diagnostik mit Hilfe der Fruchtwasseruntersuchung und der legalen Abtreibung bei Down Syndrom hingewiesen. Zu Wort kommt ein prominenter Facharzt: „Dieses so schwere Schicksal sollte man sich bewußt nicht auferlegen.“

Und zu diesen beiden Äußerungen fügt sich nahtlos noch eine dritte: Seit einiger Zeit läuft in der Wochenzeitschrift „Medical Tribüne“, einer vielgelesenen Art „Ganze Woche“ der Ärzteschaft, eine Diskussion über mißgebildete Babys unter der bezeichnenden Uberschrift: „Welche sollen wir sterben lassen?“

Wenngleich die Diskussion mit Vorsicht und mit vielen „Wenn“ und „Aber“ geführt wird, so gibt es in Anbetracht der Themenwahl keine Zweifel darüber, daß nicht alles Leben in den Augen mancher Ärzte lebenswert ist.

Die drei Begebenheiten zeigen, in welch unaufhaltsamen Teufelskreis die Diskriminierung von Leben in „lebenswert“ und „nicht lebenswert“ führt: Treibt man nun nur bei Down Syndrom oder auch bereits bei Gicht ab?

Wenn es auch in unserem Kulturkreis undenkbar erscheint, drängt sich der Gedanke dennoch auf: In Indien wird die Fruchtwasseruntersuchung auch zur Diagnose des Geschlechts verwendet; die Indikation zur Abtreibung heißt dann: weiblich.

Kann man die medizinische Behandlung eines bei der Geburt mißgebildeten Kindes verweigern, ja überhaupt alle „lebenserhaltenden Maßnahmen“ einschließlich der Ernährung einstellen, wie das in den USA mit tödlicher Konsequenz bereits passierte?

Und wird zur Beurteilung der Lebensqualität als „objektives“ Kriterium die zu erwartende Schulunfähigkeit, der spätere Besuch einer Sonderschule, der Hauptschulabschluß, die Matura herangezogen? Bis zu welchem Alter kann aufgrund mangelnder Lebensqualität medizinische Behandlung verwehrt werden?

Fast durchwegs berichten Eltern, deren behinderte Kinder gestorben sind, erschüttert davon, daß viele ihrer Freunde und Bekannten kommentieren, es sei „eh“ besser so.

Uberhaupt: Wie sollen sich die Tausenden Eltern fühlen, die sich bewußt für ihr Kind und gegen ein Heim entschieden haben, anbe-tracht des Kommentars: „Dieses so schwere Schicksal sollte man sich nicht bewußt auferlegen“?

Die Überlegungen schließen nahtlos .an die Lehrbücher des Dritten Reiches an, die die „Belastung der gesunden Volksgemeinschaft“ durch Behinderte und Hilfsschüler vorrechneten. Die Konsequenzen der Argumentation sind hinreichend bekannt.

Daß die öffentliche Diskussion über dieses Thema vor allem aus den USA, Kanada und England herüberklingt, mag da gar nichts besagen, wie das Unbehagen und Stillschweigen der Österreicher über unsere „Tausendjährige Vergangenheit“ traurig belegt. Vielleicht sind die Bemerkungen der letzten Zeit eine Chance, mit den Gespenstern der Vergangenheit klarzukommen. Ohne diese Auseinandersetzung steht letztlich jedes gemeinsame Leben mit behinderten Mitmenschen auf bedrohlich schwachen Beinen.

Der Autor ist Chefredakteur der Zeitschrift „Lebenshilfe“.

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