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Abtreibung: ein neues Tabu-Thema?

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Die Enttabuisierer von einst haben offenbar die Fristenlösung zum neuen Tabu erklärt. Sie bekämpfen die engagierte, lebensbejahende Plattform „Geborene für Ungeborene".

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Die Enttabuisierer von einst haben offenbar die Fristenlösung zum neuen Tabu erklärt. Sie bekämpfen die engagierte, lebensbejahende Plattform „Geborene für Ungeborene".

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Seit einer der Hauptbefürworter der „Fristenlösung" (die keine „Lösung", sondern bestenfalls eine Regelung ist), Primarius Alfred Rockenschaub, erklärt hat, daß in Österreich auf jede Geburt eine Abtreibung komme, also jährlich in Österreich über 90.000 Abtreibungen durchgeführt werden, wird über dieses Thema wieder heftig diskutiert.

Besonders engagiert setzt sich seit neuestem die Plattform „Geborene für Ungeborene" für Alternativen zur Abtreibung ein. Die Gruppe, die derzeit auch Unterschriften für eine Petition an die Mitglieder des National- und Bundesrates sammelt (vgl. FÜRCHE 11/1984), veranstaltet vom 6. bis 12. Mai eine Aktionswoche „Friede mit dem Leben!" (siehe nebenstehendes Programm).

Die Aktionisten, für die .jede Abtreibung einen Akt der Gewalt gegen die betroffene Frau und ihr Kind darstellt", kommen aus verschiedenen weltanschaulichen Lagern, sind sich aber darin einig, daß hier ein elementares Menschenrecht verletzt wird. Es gibt auch schon prominente Unterzeichner der Petition aus allen im Parlament vertretenen Parteien.

Trotzdem stößt die Plattform auch auf heftigen Widerstand, wie sich am 11. April bei einer Diskussion im Amtshaus des Wiener Bezirkes Hietzing deutlich zeigte. Das vom Verein „Treffpunkt Hietzing" gestellte Thema „Fristenlösung-Lösung aller Probleme?" schied nämlich klar die dort anwesenden Geister und offenbarte tiefe Gräben zwischen den beiden diskutierenden Lagern.

Obwohl von den „Geborenen für Ungeborene" immer wieder betont wurde, daß sie das Thema Strafparagraph bewußt ausklammern und nur Positiv-Maßnahmen zur Reduzierung der erschütternd hohen Abtreibungszahlen erreichen wollen, wurde ihnen ständig unterstellt, sie seien an einem „Zurück zum Paragraphen 144" und einer Verurteilung der Frau als „Mörderin" interessiert.

Dabei gebrauchte nicht einmal der von einer Jungsozialistin, die hartes Diskutieren mit schlechten Manieren verwechselte, als „Erzreaktionär" bezeichnete Primarius Wolfgang Müller-Hartburg das Wort „Mörderin". Seine schärfsten Worte: „In den letzten zehn Jahren sind in Österreich von weniger als 100 Ärzten eine Million Kinder industriell getötet worden. Das Nichts-davon-wis-sen-Wollen oder Darüber-Lachen hat man schon beim Holokaust I erlebt." Daß diese Aussage einen Teil des Publikums auf die Palme brachte, war verständlich, seltsam mutete freilich an, daß auf den Satz „Wir haben eben jetzt die Fristenlösung" der Zwischenruf „Gott sei Dank!" folgte.

Alles in allem verlief die Diskussion emotionsgeladen, reich an Zwischenrufen und Gelächter seitens der Fristenlösungsanhänger und arm an Bereitschaft, auf die Argumente der anderen Seite einzugehen. Statt dessen wurde zum großen Teil die Argumentation der frühen siebziger Jahre wiederholt. Der sozialistische Block im Publikum schoß Breitseiten gegen die Kirche, indem man/frau kirchliche Lehren und Aussagen großteils völlig falsch zitierte, und gab dem „Selbstbestimmungsrecht der Frau" klar den Vorzug gegenüber dem Lebensrecht des Kindes, da ja, so Staatssekretärin Johanna Dohnal unter lebhaftem Beifall, „erst mit der Geburt" der Mensch beginne.

Ob es sich hier um echtes oder vorgebliches Unwissen der Frau Staatssekretärin handelt, sei dahingestellt. Eigentlich sollte man gerade im Zeitalter der umstrittenen „Retortenbabys" wissen, wann menschliches Leben beginnt und daß es, so problematisch das aus ethischer Sicht sein mag, vielleicht schon in wenigen Jahrzehnten völlig außerhalb des Mutterleibes entwickelt werden kann. Wahrscheinlich weiß Frau Dohnal auch nicht, daß es im angelsächsischen Raum Spitäler gibt, wo Kinder von fünf bis sechs Monaten abgetrieben werden, während im gleichen Gebäude Arzte alles daransetzen, um das Leben von genauso alten Frühgeburten zu erhalten.

Es war erschütternd, wie unwissend, kinder-, männer- und kirchenfeindlich ein Teil des Publikums daherredete. Es war aber auch bemerkenswert, daß — zumindest in dieser Diskussion — nur die Fristenlösungsgegner einen Gesinnungswandel gegenüber früheren derartigen Gesprächen erkennen ließen: Man ist von der Forderung nach Bestrafung der Frau, auch wenn das die Gegenseite nicht wahrhaben will, längst abgerückt.

Auf der anderen, der sozialistischen, Seite gab man sich dagegen höchst zufrieden mit der Fristenlösung, die die Frauen „befreit" habe und an der es nichts zu rütteln gäbe. Nur müßten es die „Konservativen" endlich ermöglichen, daß auch in den westlichen Bundesländern in allen öffentlichen Spitälern abgetrieben werden dürfe und daß empfängnisverhütende Mittel auf Krankenschein zu bekommen seien.

Im letzteren Punkt zeigten sich einzelne Vertreter der Plattform „Geborene für Ungeborene" eine Woche später bei einer Pressekonferenz sogar gesprächsbereit. Auch in der Frage verstärkter Aufklärung in den Schulen scheint man sich über das „Daß" einig, allerdings keineswegs über das „Wie".

Sonst aber liegen Welten zwischen den „Geborenen für Ungeborene" und ihren Gegnern, die anfangs Mai ebenfalls Aktionen (Demonstration, Diskussion) setzen wollen und offenbar total in Richtung auf Huxleys „Schöne neue Welt" marschieren: Trennung von Sexualität und Fortpflanzung. Kein Wunder, daß natürlich alle möglichen Homosexuellen-Klubs dabei sind.

Ob letztlich eine Verständigung über aufgerissene Gräben hinweg möglich ist, wird wohl davon abhängen, wie weit man sich über Tatsachen einigen kann, beziehungsweise überhaupt an der Feststellung gewisser Tatsachen interessiert ist — an einer objektiven Erhebung der Zahl der Abtreibungen in Österreich, der Motive dafür, der Möglichkeiten, durch Änderungen im Sozial- und Steuerrecht den Entschluß für das Kind zu erleichtern. Daß Umfragen deutlich zeigen, daß Großverdiener viel eher die Fristenlösung befürworten als arme Schlucker, sollte allen sozial Engagierten eigentlich zu denken geben.

Solange freilich darum gestritten werden muß, wann ein Mensch beginnt, solange in „Aufklärungsbroschüren" der Sozialistischen Jugend steht, bei einer Abtreibung werde nur „Schwangerschaftsgewebe" entfernt, solange sind wir von einer offenen, ehrlichen Diskussion leider noch weit entfernt.

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