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Ach, diese Martha!

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Martha, neuerdings nur mehr unterwegs, vom Kellerloch, in dem jemand Unbekannter aus eben entstandenen Werken vorträgt, zur Kleinstbühne, auf der ein ultramodernes Stück auf noch nie dagewesene Weise inszeniert, geprobt und aufgeführt wird, vom kalten Saal mit seinen unverputzten Wänden in irgendeinem häßlichen Vorort, wo eine Band für ihren ersten Auftritt probt, zum lichtdurchfluteten Raum mit wandhohen Spiegeln, in dem sie New Dance, Jazz Dan-

ce, Flash Dance trainiert, — Martha ist als außerordentlich vielseitige, als höchst extravagante Frau zu bezeichnen.

Marthas Haar ist hüftlang und naturkraus, Martha ist kurzsichtig und hat vor wenigen Tagen endgültig die hellen, schmalen Hornbrillen, die ihr sonst gut zum hellen, schmalen Gesicht standen, gegen Haftschalen vertauscht, Martha trägt vorzugsweise gerade geschnittene, sackartige Kleider oder weite, sie beinahe unförmig scheinen lassende Hosen in Schwarz, Grau oder Weiß, an Martha kommt man schwer heran.

Dabei ist ihr Gesicht glatt und hübsch, ihre Figur schmal und lieblich, gleich der einer Lilie, wie ihre Mutter sich auszudrücken pflegt. Als Kind war Martha Ballettschülerin, eine der talentiertesten, eine der ehrgeizigsten. Sie hatte das Sacre Coeur besucht, daher stammt vermutlich ihr Widerwille gegen Dunkelblau und ihre Neigung zur Schlichtheit, um nicht zu sagen Askese. Ihr Körper zum Beispiel erscheint ihr weder schön noch häßlich, er ist ihr bloßes Werkzeug, dessen Pflege und Wartung zwar nicht zu vernachlässigen seien, dennoch aber nicht überbewertet werden dürfen.

Martha ist zierlich, aber zäh. Ihr Intelligenzquotient beträgt 140, in ihrem Studium, Germanistik und Kunstgeschichte, daneben etwas Philosophie, kommt sie, wie nicht anders zu erwarten, rasch vorwärts.

Martha ist neunzehn und in ihrem Leben noch nie verliebt gewesen, sie trägt auch nicht das geringste Verlangen danach. Martha mit ihrem auf modernen Standard gebrachten, spröden Jungmädchencharme lebt in der Stadt, in einer Wohnung, gerammelt voll von alten Möbeln, Schnittblumen und Miniaturbildchen in Pastell,

bei Mama, die seit einem Jahr Witwe ist. Martha ist das einzige Kind, das nach acht Fehlgeburten schon nicht mehr erhoffte, bei der Geburt war Mama vierzig.

Mama ist sehr poetisch, mit einem Hang zur Schwärmerei, sie schreibt Gedichte und schwört auf Stifter. Der verstorbene Papa war ein kleiner Beamter bei der Finanz, und eigentlich war es keine sehr glückliche Ehe gewesen. Während Marthas Pubertät hatte es wenige kleinwinzige Aufmüpf-versuche gegeben, von beiden Eltern mit unterschiedlichen Mitteln mehr oder weniger sanft zurückgedrängt, seither keine Schwierigkeiten mehr. Ihre Manieren waren die ausgesuchtesten, ihre Bildung die erlesenste, so etwas findet man heutzutage kaum noch.

Seit sie erwachsen ist, lackiert Martha ihre Nägel, im Sommer blaßrosa, im Winter dunkelviolett. Sie liest James Joyce und Samuel Beckett, selbstverständlich

nur im Original, und ihre Bibel ist Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung".

Sie verachtet Trivialliteratur, haßt Schifahren und geht selten zum Baden. Sie schwimmt zwar gut, aber sie nimmt kaum Bräune an und erträgt Hitze und Kälte schwer. Sie sollte keine Filme sehen, es geht ihr zu nahe, sie hat eine empfindsame Seele und eine erschreckend plastische Vorstellungskraft.

Seit kurzem ist sie mit einem hoffnungsvollen Jungdramatiker befreundet, der ihr Ansichtskarten schickt, aus Cardiff, York, Stratford und Swansea, er ist gerade unterwegs auf einer Lesereise und in Verhandlungen mit einem Londoner Theaterensemble begriffen, anschließend wird es mit einer ausgewählten Delegation in die USA gehen. Und ihre beste Freundin schickt ihr eine Kunstpostkarte von einer Sonderausstellung im Grand Palais.

In solchen Kreisen verkehrt also Martha, in intellektuellen, kultivierten, sensiblen, avantgardistischen Kreisen und mit einigen solcher Freunde sitzt Martha gerade im Großen Festzelt des Stei-rischen Herbstes bei der Jandl-Gala.

Sie sitzt da in ihrer üblichen Haltung, Arme verschränkt, Oberkörper vorgebeugt, eifrig an der Unterlippe nagend, stets bereit, etwas zu notieren in ihrem heimlichen Notizblock, den sie immer dabei hat, im Hirn, im Herzen, geistige Dinge, Nippes, Zitate, die sie braucht, die sie sammelt.

i Das Zelt ist übervoll, der ORF filmt, die Bühne wird von unzähligen Scheinwerfern überstrahlt, Ernst Jandl liest und schreit und Martha sitzt mit weit aufgerissenen Augen, versäumt keine Silbe, blaß ist sie vor Aufregung, und nervös wippen ihre Zehen, verknoten sich ihre Finger, und sie lacht auf, wenn alle lachen, nur et-

was früher.

Eine halbe Stunde später entdeckt Martha Klaus, nach der Pause, als die beiden amerikanischen Tänzer mit ihrer Performance beginnen. Klaus steht da, an eine Strebe gelehnt, die Arme verschränkt, genau wie Daniel, und verschlingt mit seinen Blik-ken die beiden Tänzer, den schwarzen, den weißen, genauso, wie Martha vorhin den Dichter Jandl verschlungen hat. Klaus zuckt im Rhythmus, und er sieht gut aus, so wild, und stark, in seiner schwarzen Lederkluft, mit seinen bis zu den Ohren hochgeschorenen Haaren, den sehnigen Oberarmen. Klaus zuckt, bewegt sich, wie die sich bewegen auf der Bühne, genauso. Und Martha spürt New York, und Großstadt, Verkehr, Menschen, und sieht die Tänzer lächeln, die Zähne fletschen, fühlt die Spannung, die Anstrengung, die äußerste Konzentration. Sie nimmt alles in sich auf, die glänzenden Trikots, die enganliegenden Hosen, die flachen Tanzschuhe, die Satinhemden, die grellen Scheinwerfer, die flackernden Farben, den Schweiß.

Klaus ist total entrückt, weg von allem, Martha ist es auch, aber er kann es zeigen, sie nicht. Sein Mund steht offen, er klappt in den Hüften nach vor und zurück und wippt und schnippst mit den Fingern und singt mit, und als sie fertig sind mit dem ersten Stück, stürmt er nach vorn und schreit Bravo, lauthals „Bravo" schreit er, „Bravo!" Martha ist abgestoßen von seinem Mangel an Zurückhaltung und angezogen gleichzeitig von eben demselben Mangel, von dieser Direktheit und Hemmungslosigkeit. Der Rhythmus der Musik, der Rhythmus durch Bewegung ist mächtig, Bewegung, das kennt Martha, aber daß alle es spüren, daß zwei Tänzer das ganze Zelt in ihren Bann ziehen können! Denn das ganze Zelt ist New York, das ganze Zelt atmet schwer, seufzt, stöhnt, und fällt erschöpft in sich zusammen, genießt die Erschöpfung, ist bloß noch Körper, Körper, der fühlt.

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