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Digital In Arbeit

Acht Jahre für Denken

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Rudolf Bahro, langjähriges SED-Mitglied und einst auch führender Wirtschaftsfunktionär der DDR, muß für acht Jahre ins Gefängnis: Weil er gedacht hat. In seiner im Herbst 1977 unter dem Titel „Die Alternative“ auf dem westdeutschen Buchmarkt erschienenen Kritik des „real existierenden Sozialismus“ hat Bahro einen wagemutigen Beitrag geliefert, der vom Trotzkisten Ernest Mandel als „einer der reichsten und bestechendsten Beiträge zur Sozialismus-Diskussion der letzten Jahrzehnte“ bezeichnet worden ist.

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Rudolf Bahro, langjähriges SED-Mitglied und einst auch führender Wirtschaftsfunktionär der DDR, muß für acht Jahre ins Gefängnis: Weil er gedacht hat. In seiner im Herbst 1977 unter dem Titel „Die Alternative“ auf dem westdeutschen Buchmarkt erschienenen Kritik des „real existierenden Sozialismus“ hat Bahro einen wagemutigen Beitrag geliefert, der vom Trotzkisten Ernest Mandel als „einer der reichsten und bestechendsten Beiträge zur Sozialismus-Diskussion der letzten Jahrzehnte“ bezeichnet worden ist.

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Der besondere intellektuelle Mut Bahros, dessen nach jahrelanger Arbeit entstandene Zeilen freilich nicht im eigenen Land erscheinen konnten und auch im Westen vorerst an unzuständige Adressen gerieten, da die Lektoren die Sprengkraft der Bah-ro'schen Alternative nicht erkannten, liegt vielleicht nicht einmal in erster Linie darin, daß er sich von vornherein darüber im klaren war, für sein freimütiges Denken mit der Freiheit zu bezahlen: Sein besonderer Mut besteht darin, daß er auch an jene DDR-Bürger, die bislang ihre subalterne Rolle im bürokratisch-etatistisch wuchernden Staats- und Parteigetriebe nicht ausreichend realisiert haben und die nun die in der DDR illegal herumgereichten Alternativen lesen, unangenehme Fragen richtet: Lohnt es sich überhaupt, unser real existierendes System (welches Bahro als ein „protosoziali-stisches“, ein System, in dem sich der Sozialismus noch im Larvenstadium befindet, begreift), das so gründlich an den Ideen der Ahnväter Marx, Engels und Lenin vorbeilebt, von Grund auf zu erneuern? Ja gibt es angesichts der perversen Deformationen, die sich in Staat, Partei und Wirtschaft immer deutlicher zeigen, überhaupt einen Funken Hoffnung, die nun schon seit Jahrzehnten geschürten Wünsche und Träume in die Wirklichkeit umzusetzen?

Kein Zweifel: Der Mann, der mit den Privilegien der Parteihierarchie gründlich aufräumen will, der die kommunistischen Päpste der Häresie zeiht, zerstört reihenweise die Illusionen. Und zwar derart gründlich, so daß die Abrechnung mit dem „real existierenden Sozialismus“ den entscheidenden Schwerpunkt seiner Publikation darstellt. Viele Leser, gerade jenseits des „Eisernen Vorhangs“, werden sich vornehmlich an der Schilderung der vielen alltäglichen Mißstände delektieren und die gedanklichen Sprünge zu den Vorstellungen über die bessere kommunistische Zukunft, über die Alternativen, kaum mitmachen. Womit auch schon festgehalten ist, daß entgegen den eigentlichen Intentionen des Autors die greifbaren Alternativen eher spärlich gesät sind: Die Alternativen lassen sich in ihrer Gesamtheit aus den geschilderten Kritik-Ansatzpunkten abstrahieren, begründen damit aber wiederum neue Illusionen.

Uber weite Strecken vermittelt Bahros Analyse den Eindruck, es sei in erster Linie die überzüchtete und korrumpierte Staats- und Parteimaschine, die dem eigentlichen Marxismus im Wege stehe: Die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln habe etwa keineswegs dessen Umwandlung in Volkseigentum mit sich gebracht. Vielmehr stehe heute die „ganze Gesellschaft eigentumslos der Staatsmaschine gegenüber“. Die Eigendynamik der gesellschaftlichen Entwicklung, die Subordination statt Assoziation und neue Entfremdungen statt Beseitigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen erzeugt habe, hat Marx über weite Strek-ken hoffnungslos hinter sich gelassen: „Was Marx nicht voraussah, war die inzwischen notorische Tatsache, daß sich die Vereinigung von Philosophie und Proletariat, von Sozialismus (als Wissenschaft) und Arbeiterbewegung nach der Revolution ebenso entpuppen würde wie seinerzeit der dritte Stand, aus dem heraus die Bourgeoisie zur Macht kam.“

Im Teil II seines Buches-„Anatomie des real existierenden Sozialismus“ -widmet sich Bahro hauptsächlich der Kritik (... „man wird sich erinnern, daß Kritik bei Marx vornehmlich wissenschaftliche Analyse mit der Absicht praktischer Weltveränderung hieß.“) an der Partei- und Staatsmaschine. Hauptansatzpunkt ist die ausgeprägter werdende Teüung der Arbeit, welche soziale Ungleichheit schaffe. Die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit, so Bahro, also die Trennung von planender bzw. kommandierender und ausführender Arbeit sei massiver als je zuvor verankert: „Alles in allem war der Sowjetstaat, mit der Partei als Kern, nicht der Stellvertreter einer mit ihrer eigenständigen Machtausübung überforderten Arbeiterklasse, sondern der außerordentliche Stellvertreter (nicht natürlich Platzhalter!) einer Ausbeuterklasse.“

Bahro konstatiert, der real existierende Sozialismus habe den Horizont der Klassengesellschaft noch nicht überschritten: „Jedoch verlaufen die

Klassengrenzen an einer ganz anderen Stelle, als die offizielle Theorie wahrhaben darf.“ Unter der Herrschaft der alten Arbeitsteilung könne reales gesellschaftliches Eigentum nicht existieren: „Wenn dennoch das Gegenteil verbreitet wird, so zu dem Zweck, dem kleinen Mann, der es freilich nicht glaubt, weiszumachen, er sei der Herr und Eigentümer des allgemeinen Reichtums.“

Ebenso wie sich der Bourgeois keine Zukunft vorstellen könne, die seine eigene privilegierte Stellung nicht reproduziert in sich enthielte, „können sich die meisten unserer Politiker und Funktionäre, ebenso unserer Wissenschaftler und Künstler keine Perspektive vorstellen, in der sie selbst als Privilegierte nicht mehr vorkämen“. Das Festhalten der offiziellen Propaganda an der „führenden Rolle der Arbeiterklasse“ diene einzig und allein der Rechtfertigung der Apparatherrschaft: „Die Arbeiter drängen sich nicht nach der Art von führender Rolle, die ihnen das System zumutet. Vielmehr hat sich sowohl in der CSSR wie in Polen gezeigt, daß sie gerade dann eine progressive Rolle in der Gesellschaft spielen können, wenn sie sich von der Vormundschaft des Parteiapparats emanzipieren.“

In seiner ökonomischen Kritik bedauert Bahro, daß der Marxismus nicht in der Lage sei, dieselbe Arbeitsintensität zu erzwingen wie der Kapitalismus (Heimweh nach dem Leistungsprinzip!?). Politökonomisch gesehen hätten die Arbeiter aber ausreichend Möglichkeiten die Gesamtgesellschaft zu erpressen. Dies könne aber nur auf unfruchtbare Weise geschehen, „nämlich durch Leistungszurückhaltung“, kritisiert Bahro.

Als entscheidenden Bremsklotz beim Unterfangen, den Kapitalismus einst zu überholen, diagnostiziert der Autor auch das von ihm so genannte System der , „bürokratischen Rivalität“, das er genau beschreibt: „Fügsamkeit nach oben, disziplinarische Durchschlagskraft nach unten und erst an dritter Stelle Kompetenz - das ist die vorherrschende Rangordnung der Auswahlkriterien. Infolgedessen haben die produktiven, schöpferischen Elemente das Uberhandnehmen von Mittelmäßigkeit, ja Unfähigkeit, von Unehrlichkeit und Unsicherheit im Amt zu beklagen, von der zugehörigen politischen Standardisierung zu schweigen.“

Im Kapitel „Partei und Bürokratie“ wird Bahro besonders deutlich: „Die Diktatur des Politbüros ist eine verhängnisvolle Ubersteigerung des bürokratischen Prinzips, weil der ihm gehorchende Parteiapparat Kirchenhierarchie und Uberstaat in einem ist.“ Oder: „Der Parteiapparat als Kern der Staatsmacht bedeutet den säkularisierten Gottesstaat, wie er der Kirche zu ihrem Glück nie anders als lokal gelungen ist.“

Den letzten Teil in Bahros Alternativen stellen theoretische Vorschläge für eine neue kommunistische Strategie dar. Hier spricht der Autor zu einem guten Teil Problemstellungen an, die auch in'der modernen nichtkommunistischen Gesellschaftskritik eine immer größere Rolle spielen: Die Frage nach dem Haushalten mit den Ressourcen unseres Planeten, die Grenzen des Wachstums, der Megalomanie, die Notwendigkeit zu einer neuen „Reise nach Innen“.

In seinen ökonomischen Zukunftsperspektiven fordert Bahro etwa die Liquidierung der bürokratischen Korruption von oben, die Abschaffung der Arbeitsnormung und des Stücklohns sowie eine Berichtigung des Lohnge-füges. Mehr als Realutopie (fast naiver Fanatismus) ist sein Wunsch nach „pjanmäßiger periodischer Beteüi-gung des gesamten leitenden und intellektuellen Personals der Gesellschaft an der einfachen ausführenden Arbeit“. Jeder Apparatschik soll vier bis sechs Wochen im Jahr in irgendeiner Fabrik verbringen, um den Kontakt zum Arbeiter wieder zu finden.

Bahro hat seine Karten auf den Tisch gelegt: Karl Marx müßte sich der Auswüchse des heute real existierenden Sozialismus schämen, so vernichtend ist Bahros Schüderung. Bahro geht aber über die rein feststellende Kritik hinaus und pflanzt entlang des mit Illusionen und phantastischen Träumen gesäumten Weges neue Illusionen und Träume.

Aber auch die DDR-Kommunisten haben die Karten auf den Tisch gelegt. Daß sie Bahro dafür, daß er über die Zukunft mit ihnen reden wollte, einsperren würden, ist bereits zwischen den Zeilen in Bahros Alternativen herauszulesen. Der Diktatur der Unfehlbarkeit beanspruchende Parteiapparat wurde ihre Maske wieder einmal vom Gesicht gerissen: Acht Jahre für Denken!

DIE ALTERNATIVE - ZUR KRITIK DES REAL EXISTIERENDEN SOZIALISMUS von Rudolf Bahro, Europäische Verlagsanstalt, Köln -Frankfurt am Main, 1977, 544 Seiten, öS 265,20.

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