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„Adieu, Maurice..

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Maurice Chevalier und Paris: eine geniale Einheit, die den Ruhm der französischen Hauptstadt in die entferntesten Orte der Welt trug. Vor allem der Amerikaner und Engländer sah in dem charmanten Chansonsänger die Inkarnation all dessen, was er sich unter der Seinestadt vorstellte.

Da steigt aus dem Morgengrauen wie ein Traum aus Alabaster die Kuppel der Basilika Sacre-Coeur in den Himmel. Um die Place Pigalle drängen sich die Touristen aus den Provinzen des Landes, würdige Briten, erlebnishungrige Schweizer und neugierige Deutsche, in der Tat ein farbenprächtiges Bild! Neger aus allen Teilen des Vberseeimperiums, stolz mit ihrem Burnus bekleidete Araber, die kleinen Bürger von der fernen Insel Madagaskar, hochgewachsene Berber und dazwischen die Narren aus aller Welt, Säufer, die im Absinth die Qual des Tages vergessen wollen, Maler, die in kärglichen Kammern Meisterwerke pinseln, die später von den Sammlern und Galerien der Welt zu phantastischen Preisen angekauft wurden. Geistert nicht etwa der Schatten des Zwerges Toulouse-Lautrec durch die engen Gassen, während Modigliani in einem winzigen Atelier seine Lunge aushustet? .

Aber Paris, das sind auch die Seine-Kais, die zärtlich umschlungenen Paare, die sich stundenlang umfangen halten und die Umwelt vergessen, sind die Kähne, die wie verworrene Träume über das ölige Wasser gleiten, sind Schatten der ehrwürdigen Kathedrale Notre-Dame, die gegen den rötlichen Horizont die grauen Mahnungen des Mittelalters in die Gegenwart übertragen, sind die Markthallen im Zentrum der Stadt, von Zola verewigt — „Der pittoreske Bauch von Paris“.

Dieses Gemälde formte der 1888 geborene Maurice Chevalier in seinen heiteren und melancholischen Chansons. In ihnen glänzte der Triumph der Revuebühnen des „Casino de Paris“ und der „Folies Bergeres“, hopst die nur mit einem Bananengürtel bekleidete farbige Tänzerin Josephine Baker über die Bretter und steigt die unvergessene Mistinguett wie eine Königin, umjubelt von den Zuschauern, im Schlußbild über die gläsernen Stufen der Bühnenstiege herab. Da wird der Frauenmörder Landru zur Guillotine geschleppt, konferieren die vier Sieger in Versailles, wird eine ruhmreiche Periode der Literatur eröffnet, die durch die Namen Claudel, Peguy, Mauriac und Ber-nanos für immer in die Geschichte eingegangen ist.

Am ersten Tage des Jahres 1972 starb der Sänger dieses Paris, welches lediglich in den Liedern Maurice Chevaliers weiterlebt, in retrospektiven Filmen Rene Clairs über die Leinwand flimmert. Denn keine der gewachsenen Städte Westeuropas verwandelt sich so schnell und verändert ihr Antlitz wie dies in Paris der Fall ist. Die Liebenden, welche einst träumerisch abends an der Seine saßen, wurden ebenso verjagt wie die berühmten Clochards. Die einen funktionieren ihre Liebesbeziehungen in Cocktail- und Haschisch-Parties zu einer Begegnung ohne Romantik um. Die Clochards, an kleinen Feuern unter den Brücken die letzte Flasche Rotwein trinkend, landeten in den blitzsauberen Heimen der Heilsarmee und der Polizeipräfektur und werden dort nach modernsten Methoden resozialisiert.

Wer die Hallen Baltards sucht, ivird vor Ruinen stehen. Dieses bedeutende architektonische Zeugnis des 19. Jahrhunderts wurde im Sommer 1971 nach heftigen Diskussionen und schweren politischen Auseinandersetzungen der Spitzhacke geopfert. An Stelle dieser pittoresken Pilze aus Eisen und Glas werden mächtige Betonklötze entstehen, Superhoteis, Superbüros, ein Super-museum für die Kunst des 20. Jahrhunderts. Die Hallen wurden schon seit Jahren ihrer Funktion entledigt. Sie übersiedelten nach Run-gis, wo automatische Bänder und. Computers die Marktweiber und ihre muskulösen Gesellen ersetzen.

Die verräucherten, liebenswerten Bistrots auf Montmartre und Mont-parnasse, in denen der Patron persönlich das Essen vorbereitete und die Gäste beriet, wurden zum Sterben verurteilt. An ihrer Stelle laden Self-Service-Stationen ein, welche dieselbe Aufgabe erfüllen wie die Tankstellen von Shell und BP. Wo man einstens einen alten Calvados kostete, einen Armagnac genoß, einen Cote de Rhone auf der Zunge zerfließen ließ, wartet jetzt die Coca-Cola-Flasche oder lieblos vorbereiteter Wein in Plastikbechern. Mit dem Verschwinden der gastronomischen Kunst ist scheinbar auch die Auster, der Leckerbissen jedes Franzosen, von den Tischen verschwunden. Die Auster, das Symbol gehobener Lebenskunst, das Zeichen eines behaglichen Schlemmerdaseins ist von einer rätselhaften Krankheit befallen. Sie wird, gemäß einer Prophezeihung, an Frankreichs Küsten aussterben. Man hat eine Aufzucht mit japanischen Tieren versucht. Diese scheint gescheitert zu sein. Natürlich verfügt Paris über einige Luxusrestaurants. Bedingt durch die horrenden Soziallasten, müssen diese bekannten Lokale französischer Gastlichkeit vieles unterlassen und denken ernsthaft an Schließung.

Wie sehen gegenwärtig die Champs Elyssees aus? Noch steht der Are de Triomphe in seiner eindrucksvollen Größe und erweckt die Erinnerung an die Taten des großen Korsen. Aber die Mode-Boutiquen, die Schmuckgeschäfte, die Auslagen, welche einstens einen raffinierten Luxus zeigten, machen permanenten Automobilsalons und protzigen Büros internationaler Fluggesellschaften Platz. Wohl finden sich herrliche Geschäfte im Faubourg St. Honore hinter der Madeleine, in der Avenue Victor Hugo. Auch hier machen sich die Spuren der wilden

Reformer bemerkbar. Manches renommierte Geschäft verwandelt sich in ein mechanisiertes Büro. Wo früher die edlen Weine Burgunds lind des Elsaß angeboten wurden, hämmern jetzt die elektrischen Schreibmaschinen. Ganze Viertel werden niedergerissen, verwandeln sich in Betonwüsten, die jede See'e vermissen lassen. Hinter diesen kalten Flächen und Wänden wird der Mensch in einen Roboter verwandelt, muß städtische Transportmittel benützen, die man nach Aussagen von Fachleuten nicht einmal Tieren zumuten würde. Die Schönheit weicht der Häßlichkeit, der Charme der Morosität. Der Rhythmus des heiteren Lebens verliert sich im Dschungel eines täglichen Kampfes mit der Verwaltung, an den Arbeitsstätten und in den Straßenschluchten, in denen mehr als einmal die Luft derartig verpestet war, daß bereits von den zuständigen Behörden Alarmzeichen gegeben werden mußten.

Adieu Maurice, größter Sänger von Paris, auch du hast deine Stadt zum Schluß nicht wiedererkannt!

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