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„Adler unter Maulwürfen“

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Die Welt trauert um Friedrich Heer. Das ist keine Übertreibung. Wir zitieren Stimmen aus dem Nachbarland und lassen einen amerikanischen Historiker zu Wort kommen.

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Die Welt trauert um Friedrich Heer. Das ist keine Übertreibung. Wir zitieren Stimmen aus dem Nachbarland und lassen einen amerikanischen Historiker zu Wort kommen.

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Die Österreicher zählen gewöhnlich zu den letzten, die etwas über den guten Ruf ihrer großen Geister im Ausland erfahren — Ludwig von Pastor, Sigmund Freud, Ludwig Wittgenstein und Karl Popper sind dafür nur die augenfälligsten Beispiele. Es mag deshalb einige Leser — gerade auch Historiker — überraschen, wenn ich behaupte: Der vergan-

gene Woche verstorbene Friedrich Heer ist Österreichs berühmtester Historiker der Gegenwart außerhalb seiner unmittelbaren Heimat.

Sein Buch „Die Welt des Mittelalters“ (The Medieval World) erschien erstmals 1961 in englischer Übersetzung und ist wahrscheinlich immer noch Heers bekanntestes Werk in der anglo-amerika- nischen Welt. Das Buch ist eine überaus gelungene Synthese aus Wirtschafts,- Kultur und politischer Geschichte; Heer legte darin besonderes Gewicht auf den mitteleuropäischen Raum und korrigierte dadurch die Tęndenz britischer und amerikanischer Historiker, sich besonders auf die westeuropäischen Staaten und Italien zu konzentrieren.

Aber trotz seiner Brillanz erwies sich „Die Welt des Mittelalters“ als atypisch. Ein „professio-

nelies“ Geschichtswerk im heutigen Verständnis, gab dieses Buch nur wenige Hinweise auf das universelle Wissen des Autors und seine besondere historische Kompetenz..

Das kann wohl kaum zu Heers „Europäischer Geistesgeschichte“ (European Intellectual History) angemerkt werden, die durch ihre breite Gelehrsamkeit besticht und ebenso durch das, was sich als gelegentliche Exzentrität des Denkens von Friedrich Heer beschreiben läßt. Dennoch war die „Europäische Geistesgeschichte“ ebenso wie „Die Welt des Mittelalters“ ein notwendiges Korrektiv zu konventionellen, in ihren Interpretationen zurückhaltenden Geistesgeschichten.

Ein sorgfältiger Leser mag feststellen, daß sich Heer mit diesem Buch in die Reihen der katholischen „Ketzer“ gesellte — Denker wie Lord Acton, Ignaz Döllinger, Louis Duschene und Henri Bre- mond. überhaupt kein Scharfblick war notwendig, um den Dissidenten in „Gottes erste Liebe“ (God’s first love) zu erkennen, ein zornige Anklage gegen zwei Jahrtausende des katholischen Antisemitismus.

Dieses Buch war „primus inter pares“ unter jenen Werken, die eine neue Generation katholischer Lehrer formten (besonders in den Vereinigten Staaten), die sich der Ausrottung des katholischen Antisemitismus und einer neuen

Theologie des Judaismus widmeten.

Ein wohlgesonnener Kritiker mag argumentieren, daß „Gottes erste Liebe“ weniger Geschichte beschreibend, als vielmehr Geschichte machend war. Tatsächlich ist dieses Buch auch eher eine Anklageschrift als ein unparteiisches Geschichtswerk — und das trotz der unbestreitbaren Fülle an Information und Wissen.

In einem weiteren ins Englische übersetzten Buch, „Europa — Mutter der Revolution“ (Europe— Mother of Revolutions), bietet Heer einen glänzenden Überblick über die Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts und beweist einmal mehr seine unvergleichliche Kenntnis des katholischen Dissi- dententums. Kein Wunder: Dies war die Tradition, der er selbst angehörte: Cisalpin (antikurial), tief mißtrauisch gegenüber dem dominierenden Ultramontanismus, war Heer eher ein Verfechter der büßenden als der „militanten“ I Kirche.

Trotz seiner Mängel und Schönheitsfehler bezeugte dieses Buch aber abermals das breite Wissen des Autors: ein Buch, das zu schreiben wohl nur Friedrich Heer die Voraussetzungen hatte.

Wenn Friedrich Heer nie die Ehre zuteil wurde, die er verdient hätte, dann auch darum, weil er in eine Zwickmühle geraten war: Die gegenwärtige Geschichtsforschung zieht den „Maulwurf“ dem

„Adler“ vor. Als Historiker verstehe ich sehr gut, daß Geschichte auf exakter, intensiver und notwendigerweise auf Teilbereichen beschränkter Forschung beruht. Aber ich bin nicht sicher, ob viele meiner Kollegen erkannt haben, was der Entscheidung geopfert wurde, „respektable“ Geschichtsforschung auf Spezialstudien zu beschränken. Ich meine, daß nur ein weitgefaßtes Verständnis der zusammenhängenden Dinge dem speziellen Ereignis die menschliche Präzision geben kann.

Wenn die Historiker fortfahren, die „Adler“ aus ihrem Klub herauszuhalten, riskieren sie, die Bedeutung der Geschichte selbst zu minimieren. Gewiß, Friedrich Heer war für Polemik und kühne Verallgemeinerungen anfällig. Doch gibt gerade die Gabe, das Einzelereignis vor dem großen Hintergrund und mit symbolischer Resonanz zu beleuchten, seinem Werk einen einzigartigen Wert. Und jeder Student der Geschichte der Menschheit kann von Friedrich Heer deshalb eine Unmenge lernen.

Der Autor unterrichtete Geschichte am Westchester State College (Pennsylvania, USA). Derzeit ist er als Historiker am Webster College in Wien tätig.

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