6849845-1976_42_05.jpg
Digital In Arbeit

Adoptivkind ASVG-Novelle

19451960198020002020

Zum 32. Mal bekommt das bereits 20 Lenze zählende „Allgemeine Sozialversicherungsgesetz“, besser bekannt unter der Kurzbezeichnung ASVG, eine Novelle angehängt. Das Netz der sozialen Sicherheit soll damit wieder um einige Maschen enger geknüpft werden. Kein außergewöhnlicher Vorgang an sich. Bemerkenswert ist allerdings, wie oft der Entwurf zur 32. ASVG-Novelle bereits völlig umgekrempelt werden mußte: Ein erstes Mal auf dem Weg vom Ministerialentwurf zur Regierungsvorlage und nun ein zweites, ja sogar ein drittes Mal unter Federführung des neuen Sozialministers Dr. Gerhard Weissenberg, der an den Gesetzestexten seines Vorgängers Ing. Rudolf Häuser kräftige Retuschen vornimmt. Am 8. September wartete er mit einem Paket von Abänderungen auf, am 20. September griff er noch einmal zum Retuschierstift.

19451960198020002020

Zum 32. Mal bekommt das bereits 20 Lenze zählende „Allgemeine Sozialversicherungsgesetz“, besser bekannt unter der Kurzbezeichnung ASVG, eine Novelle angehängt. Das Netz der sozialen Sicherheit soll damit wieder um einige Maschen enger geknüpft werden. Kein außergewöhnlicher Vorgang an sich. Bemerkenswert ist allerdings, wie oft der Entwurf zur 32. ASVG-Novelle bereits völlig umgekrempelt werden mußte: Ein erstes Mal auf dem Weg vom Ministerialentwurf zur Regierungsvorlage und nun ein zweites, ja sogar ein drittes Mal unter Federführung des neuen Sozialministers Dr. Gerhard Weissenberg, der an den Gesetzestexten seines Vorgängers Ing. Rudolf Häuser kräftige Retuschen vornimmt. Am 8. September wartete er mit einem Paket von Abänderungen auf, am 20. September griff er noch einmal zum Retuschierstift.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Sozialexperten des Nationalrates sind einigermaßen vor den Kopf gestoßen. Weissenberg, so wird argumentiert, hätte ja seine Änderungswünsche in vollem Umfang bereits vor seinem Amtsantritt als Sozialminister geltend machen können. Als Vertreter der Gewerkschaft und erst recht als Präsident des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger ist er seit eh und je ein gewichtiger und allseits beachteter Exponent beim Aushandeln der ASVG-Novellen. Seine Artigkeit in den Verhandlungen unter Federführung des scheidenden Häuser kann aber auch als Loyalität und Respekt dem Amtsvorgänger gegenüber verstanden werden.

Sehr bildhaft charakterisiert ÖVP-Sozialsprecher Dr. Herbert Kohl-maier den Werdegang der 32. Novelle, die Häuser als Schlußstein für sein persönliches Lebenswerk auserkoren hatte: „Die Novelle hat das Schicksal ereilt, nach dem politischen Tod ihres Vaters einem Adoptivvater zuzufallen, der ganz andere Vorstellungen von der Erziehung des Adoptivkindes hat.“

Die Schwerpunkte der 32. ASVG-Novelle sind längst bekannt: Nach Darstellung der sozialistischen Regierung ist sie ein weiterer Schritt zur Öffnung der Sozialversicherung für neue Bevölkerungsschichten. Derzeit sind bereits rund 96 Prozent aller Österreicher als Pflicht- oder Mitversicherte von der sozialen Krankenversicherung erfaßt und betreut. Zu den restlichen vier Prozent, die keinen gesetzlichen Versicherungsschutz genießen, zählen Selbständige, die sich nicht pflichtversichern wollen, Jugendliche, die nicht mehr mitversichert sind, aber auch noch nicht im Berufsleben stehen, Frauen, die die Möglichkeit der freiwilligen Weiterversicherung nicht genützt haben, und ein Teil der Gewerbepensionisten.

Aus der Sicht der Oppositionsparteien handelt es sich bei der 32. ASVG-Novelle gewissermaßen um eine „Räuber-Novelle“, deren Leistungsverbesserungen (Erweiterung des Versicherungsschutzes bei Unfällen, Verbesserungen für Behinderte, Erhöhungen des Hilflosen-zuschusses) dem Erhöhungen der Beitragssätze höchstens zur Dekoration gereichen. Das ist kein Wunder. Die beiden letzten Novellen — sie brachten außertourliche Pensionserhöhungen und die Lohnfortzahlung für Arbeiter — kamen sozusagen am Vorabend von Nationalratswahlen auf den Verhandlungstisch. Das Prinzip „kleine Geschenke erhalten die Freundschaft“ stand im Vordergrund. Das fällt diesmal weg. Drei Jahre vor den nächsten Bundeswahlen können in Ruhe alle weniger publikumsträchtigen Punkte zu einem Paket zusammengeschnürt werden, um in den folgenden Jahren den Weg für die Verteilungsdemokratie wieder frei zu haben.

Das System des Einkaufs in die Sozialversicherung — die Aussicht, daß sich nun die „Kapitalisten“ die Errungenschaften der Arbeitertradition kaufen könnten wie ein neues Auto, läßt so manchem altgedienten SPÖ-Mitglied kalte Schauer den Rücken hinunterlaufen — wurde schon nach der Begutachtungsphase kräftig eingeschränkt. Nach der Regierungsvorlage kann sich nicht mehr jeder, auch wenn er nie versichert war, in die Sozialversicherung einkaufen; es können lediglich Lücken in den Versicherungszeiten geschlossen werden. Voraussetzung dafür sind mindestens fünf Jahre Pflichtversicherung zwischen 1956 und 1976. Die billige und spekulative Altersversorgung wurde damit erschwert.

Nun zu den Retuschen des neuen Sozialministers:

• Einbeziehung der Apotheker und Patentanwälte in die Angestelltenversicherung und nicht in die für Selbständige zuständige Anstalt. Bei letzterer wäre die Rückgabe einer Gewerbekonzession Anspruchsvoraussetzung, bei der Angestelltenversicherung aber nicht. Ein vielversprechendes Hintertürl für viele Selbständigen-Gruppen.

•Erhöhung des Krankenversicherungsbeitrages der Arbeiter von sechs auf 6,3 Prozent.

•Verdoppelung der Grenze für den jährlichen Beitrag zur Höherversicherung. Eine Bestimmung, die den Mehrfachversicherten entgegenkommt

•Die geplante Gleichstellung von Mann und Frau in der KrankenMitversicherung hat Weissenberg wieder herausgestrichen. Derzeit ist bekanntlich die Frau beim berufstätigen Mann mitversichert, nicht aber umgekehrt, was etwa in vielen Studentenehen von Vorteil wäre. Die Ungleichbehandlung von Mann und Frau erscheint in Anbetracht des mit viel Wirbel angepriesenen neuen Eherechtes als völlig unkorrekt.

•Der Unfallschutz für Betriebsräte soll auf jene Arbeitnehmer ausgeweitet werden, die dem Betriebsrat in irgendeiner Tätigkeit an die Hand gehen.

•Fast totaler Umbau der Neuregelungen für die Rehabilitation, die einen Kernpunkt der Novelle darstellt. Wollte Häuser noch Kuraufenthalte auch den Angehörigen der Versicherungsnehmer gewähren, hat Weissenberg nun diese Annehmlichkeit wieder dem Rotstift zum Opfer fallen lassen.

•Entfall der sozialversicherungsrechtlichen Konsequenzen'für die geplante Scheidungsreform. Die ÖVP bestand von Anfang an darauf, weitergehende Konsequenzen aus der Scheidungsreform erst dann zu ziehen, wenn sie vom Parlament beschlossen ist.

Ohne für alle Beteiligten zufriedenstellende Lösung werden voraussichtlich auch die Ärzte aus den ASVG-Verhandlungen heraussteigen. Ursprünglich sollten sie als Pflichtversicherte gemeinsam mit Rechtsanwälten, Architekten, Apothekern in den Sozialstaat eingegliedert werden, was bei mehreren tausend Ärzten ein glatter Unsinn gewesen wäre. Die große Majorität der niedergelassenen Ärzte, rund 4400, wurde aus einem öffentlich- oder privatrechtlichen Dienstverhältnis heraus nach Ansicht von Hofrat Doktor Walter Urbaz, dem Kammeramtsdirektor der Österreichischen Ärztekammer, „irgendwo bereits vom Wohlfahrtsstaat geschluckt“. In der Luft hängt punkto Altersversorgung lediglich ein Drittel aller Ärzte, die in der Pension nur Anspruch auf einen Brutto-Ertrag von 5000 bis 8000 Schilling aus der Kammerversorgung haben. Die Unterschiede rühren laut Ärzte-Chef Primarius Dr. Richard Piaty daher, daß sämtliche Bundesländer in der Altersversorgung der Ärzte Sondervereinbarungen eingegangen sind,,

Fragen über Fragen also, die vom Sozialausschuß des Parlaments unter Zeitdruck noch behandelt werden müssen. Denn der 1. Jänner 1977, der Tag des geplanten Inkrafttretens, rückt unbarmherzig näher.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung