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Adria 75

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Sie spielen Boccia mit Plastikkugeln, stundenlang, tagelang — immer dasselbe. Papa und der siebenjährige Sohn in gleich biederer Kluft. Der Alte legt vor, dann wirft der Bub. Beide spielen dürftig, aber ausdauernd. Von neun Uhr bis zwölf Uhr und den ganzen Nachmittag lang. Mamma liegt unter dem Sonnenschirm und liest „II Resto del Carlino“. Zweimal am Tag geht man ins Wasser: um halb zwölf und um halb fünf. Urlaub an der Adria.

Soweit das Auge reicht — die

Armee der bunten Schirme. Darunter die Liegestühle, wie die Sonnendächer in Farbe und Muster abwechselnd. Blau gehört zum Bagno Franco, Rot zum Bagno Germano und Grün zum Bagno Giovanni. Einige der Badegäste haben keinen Schirm und kein Liegebett. Sie sind die Parias des Strandlebens.

Die meisten wissen, was sich gehört. Sie unterwerfen sich dem freundlichen Regime eines Bagnino und haben zwei oder drei Wochen lang ihren sicheren Platz. Je nach Tarifklasse mit Blick auf das Meer oder mit Blick auf die Liegestühle.

Aber jeder hat so viel Platz, daß er ungehindert die Füße in den Sand stecken kann.

Die Bagnini sind ordnungsliebende Leute. Jeder betreut ein Revier von fünfzig oder hundert Schirmen, betreibt eine kleine Bar, vermietet Mosconi und Pedaloni (Ruder- und Tretboote). Abends werden die Schirme geschlossen, die Liegestühle mit militärischer Präzision ausgerichtet und der Sand wird sorgfältig durchgerecht. Dieser Maßnahme fallen die Burgen der Kinder zum Opfer. Das heißt viel in einem Land, in dem die „Bambini“ die Hauptpersonen sind und deren Unarten das helle Entzücken der Erwachsenen hervorrufen. Aber Ordnung muß sein an der Spiaggia! Bei unsicherer Wetterlage erhalten die Schirme des Nachts sogar eigene Hauben, und die Gehilfen der Bademeister sind regelmäßig damit beschäftigt, Überzüge für Schirme und Stühle zu waschen. Der Strand ist flach und harmlos. Die meisten Badegäste haben nicht die Ausdauer, so weit ins Meer hineinzuwaten, bis sie den Boden unter den Füßen verlieren. Dort draußen kreuzen die roten Boote der Strandwache, und beim Aufkommen einer Brise werden die roten Fahnen gehißt. Das hat nichts mit Politik zu tun, sondern soll das Strandvolk vor den Gefahren des Meeres warnen. Die Wellen sind an dieser Küste selten gefährlich, aber manchmal passiert es, daß ein Badender von einem giftigen Fisch gebissen wird. Die kleinen Biester stecken für gewöhnlich tief im Grund und erst bei bewegter See kommen sie hervor. Ihr Biß ist anfänglich kaum sichtbar, aber äußerst schmerzhaft und kann in seiner Auswirkung mit dem Stich eines europäischen Skorpions verglichen we,riäen.

Landwärts ist der Strand durch einen viele Kilometer langen Pinienwald abgeschirmt. Dahinter liegt Pinarella, ein weitverzweigter Ort, dessen Name noch nicht in den Prospekten der großen Reisebüros aufscheint. Deshalb wird er vornehmlich von Italienern - besucht. Die Germanen gehen nach Cervia und Cesenatico.

Über alles, was man an diesen platzen erleben kann, wird der Strandgast pausenlos akustisch informiert. Einmal dröhnt der Lautsprecher vom Land her, einmal vom Wasser. Angeboten werden Schiffsexkursionen, Perserteppiche, Salben gegen Hautreizungen und gemütliche Stunden im „Piccolo Monaco“, im Kleinen München, mit freundlichen Kellnerinnen und importiertem Gerstensaft. Zwischendurch dreht ein kleines Motorflugzeug seine Runden und zieht durch das strahlende Blau werbewirksame

Transparente. Reklame zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Weniger auf Propaganda, dafür mehr auf ihre eigene Tüchtigkeit vertrauen die fliegenden Händler. Zu Fuß, auf dem Fahrrad oder auf verwegen zusammengebastelten Motorfahrzeugen streichen sie in sengender Hitze die Küste entlang. „Gelati“, schreit der eine und der andere singt: „Alö cocö, cocomieri!“ Aber außer Eis, Kokosnüssen und Wassermelonen gibt es noch viele andere Kostbarkeiten vom Liegesessel aus zu kaufen. Zum Beispiel Koffer- und Taschenradios, Armbanduhren, Blumenvasen und sogar Pendeluhren mit eingebautem Barometer. Ein hageres Weines Männchen erscheint täglich mit einem Karren voll Bade-ranisch. Die dicke Alte auf dem Moped ersetzt die Zugmaschine. Von der Taucherbrille bis zum Plastikboot ist hier alles zu haben: Badekleidung, Handtücher, Strohhüte, Flossen, Bälle, Bocciakugeln, Schwimmreifen, Gummitiere und tausend andere billige Sachen. Auch ein mobiler Zuckerladen kommt regelmäßig vorbei, und von Zeit zu Zeit tauchen Händler mit Textilien auf, mit Modestücken zu Schlagerpreisen. Dann gibt es eine Modenschau mit nordischen Walküren als Mannequins.

Gleich hinter dem Strand der Großen beginnt die lange Reihe der Kinder-Camps und zieht sich hinauf bis zum „Bagno Paradiso“ im Schatten der Wohnblocks von Cesenatico, dort, wo die Liegestühle bis an das trübe Wasser reichen und sich die Reisebürotouristen vor der Plastikpalme eines Mini-Hawaii photogra-phieren lassen.

Die Ferienkinder leben in von einander isolierten Gruppen. Ihre Welt ist eine drahtumzäunte Sandfläche, ein Garagenbungalow und ein Gehege im Pinienwald. Jede Kolonie hat ihre eigene Uniform und weltanschauliche Ausrichtung. Geistliche Schwestern in langen weißen Gewändern, am Gürtel den Rosenkranz, betreuen die Buben und Mädchen in schwarzen, grünen und blauen Dressen, während sich um die rot gewandeten Kinder Vertreterinnen linksorientierter Organisationen kümmern. Die ganz Linken benützen den Badestrand als Übungsplatz zur Heranbildung von Klassenkämpfern. Zuweilen erscheinen Funktionäre im Castro-Look und spielen mit den Kleinen „Arbeiter und Kapitalisten“. Da gibt es dann Demonstrationszüge mit Mao-Parolen, Straßenkämpfe gegen eine schwerbewaffnete Polizei und zum guten Schluß eine mit Ansprachen gewürzte Siegesfeier. Die Kinder tun mit mehr oder weniger Begeisterung mit. Schließlich müssen sie sich ihren Wohltätern gegenüber irgendwie dankbar erweisen.

Dreimal am Tag marschieren die Kinderkarawanen vorüber. Die Wohnheime liegen hinter dem Wald. Kinder in schwarzen, weißen, roten, grünen, blauen, gestreiften und karierten Kostümen, mit Hütchen oder Mützen. Morgens und abends singen sie ihre erfrischenden

Melodien und selbst die Kommunistenhymne „Avanti, popolo“ klingt aus den jungen Kehlen wie ein harmloses Wanderlied.

So hat auch im Zeitalter des Massentourismus-das Strandleben seine eigenen Gesetze und seinen Rhythmus. Die Bademenschen sind nicht wie die Fischer von den Gezeiten abhängig, sondern vom Diktat ihrer Urlaubstage. Nur die Launen der Witterung treffen sie alle. Wenn Sturm aufkommt, erscheint das Meer wie ein horizontaler VVasserfall von unabsehbarer Breite. Wehe, wenn es ein Nordost ist! Dann treibt häßlicher brauner Schaum auf den Wogen, der bei Ebbe im Sand einen dunklen Rand hinterläßt. Optimisten unter den Gästen meinen, es sei das heilkräftige Jod der Adria. Die Ein-

Karikaturen: Haitzinger heimischen können über so viel Naivität nur mitleidig lächeln und doch fällt es ihnen schwer, die Wahrheit zu sagen: „Viene da Ravenna, dal grande porto ...“

Auch im Süden scheint nicht immer die Sonne. Manchmal kommen Wolken, und zuweilen regnet es. Dann wird das Meer grau und düster. Nur die Kronen der Wellen ergeben lichte Punkte auf der ruhelosen Fläche. Der Strand vereinsamt und die gefalteten, triefenden Schirme stehen da wie die Soldaten einer geschlagenen Armee. Gespenstisch legen sich Nebel-

Schwaden über all das Gerät, das an solchen Tagen seinen Zweck verloren hat. Nur der Pinienwald erwacht zu neuem Leben. Das Grün wird frisch und leuchtend, und ein herber würziger Duft streicht über das Land. Was die Sommersonne nicht mehr vermag, weil sie das Lockmittel für die Massen ist, das bewirkt nun der Regen. Der Adriastrand wird wieder geheimnisvoll, verzaubert für wenige Stunden ...

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