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Ächtung für Drückeberger

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Sind die Zivildiener bloß „vaterlandslose Gesellen” oder verlangt nicht die Bibel von den Christen Ge-waltlosigkeit? Extremstandpunkte können auch zur Klärung beitragen.

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Sind die Zivildiener bloß „vaterlandslose Gesellen” oder verlangt nicht die Bibel von den Christen Ge-waltlosigkeit? Extremstandpunkte können auch zur Klärung beitragen.

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Wer der Gesellschaft sagt: „Ohne mich”, dem soll die Gesellschaft antworten: „Ohne uns”. Also würden die Wehrdienstverweigerer eben den Staat, den sie für ihr Leben gern ruiniert sehen möchten, sanieren.

Man braucht bloß zu rechnen: Der Bürger zahlt Steuer in Form von Geld und in Form von Wehrdienst. Wer diesen Dienst nicht leistet, das heißt: seine Steuer nicht zahlt, sondern hinterzieht, der hat seine Ansprüche an den

Staat verscherzt: von der Studienbeihilfe und der Wohnbauförderung über die Kranken- und Altersversicherung bis zum nichtmilitärischen Staatsdienst mit Kündigungsschutz und Pensionsberechtigung, ja bis zur kostenlosen oder nicht kostendek-kenden Mitbenützung der öffentlichen Verkehrsmittel, Bibliotheken, Sportplätze und so weiter.

Ein ihr Gewissen symbolisierendes Abzeichen — sagen wir: ein in Hammer und Sichel verstricktes Kreuz — würde Wehrdienstverweigerer überall kenntlich machen: tun sie doch nichts so gerne wie demonstrieren, was auf deutsch so viel heißt wie zeigen.

Ein Muster für diese soziale Expatriierung der freiwillig vaterlandslosen Gesellen liefert das frühe Christentum, das sich grad deshalb hier anbietet, weil nicht wenige Wehrdienstverweigerer, wenn auch ohne jedwede Kenntnis desselben, darauf sich berufen.

Ganz abgesehen davon, daß das Christentum rasch die bevorzugte Religion der Soldaten geworden ist und daß schon die junge Kirche in militärischen Termini dachte („sacramentum” heißt „Fahneneid”, ja sogar „Kriegsdienst”).

Davon einmal abgesehen, ist bereits 314 — das Christentum war noch lange nicht Staatsreligion! — auf einem Konzil, zu Arles, beschlossen worden, daß alle Gläubigen, die den Wehrdienst verweigerten, exkommuniziert werden sollten; was damals nicht bloß privat-religiöse, sondern auch bürgerlich-rechtliche Folgen gehabt hat: Man war nicht bloß ausgeschlossen vom Heil der Seele, sondern genauso vom Wohl der Gemeinde: geistlich verdammt und sozial geächtet.

Ein Risiko etwa vergleichbarer Kategorie wiederherzustellen: das wäre die wichtigste staats-und sozialpolitische und auch kirchenpolitische Tat des Jahrhunderts, um endlich, wie die Bibel das ausdrückt, die Spreu vom Weizen zu sondern.

Die Wehrdienstverweigerer ihrerseits, übrigens, sollten den Mund nicht zu voll nehmen just mit der Bibel, zumal sie dieselbe offenbar nie gelesen haben.

Sie wissen vom Hörensagen: „Liebet eure Feinde!” Allein, weder Bergpredigt noch Feldrede meüit die Feinde im heutigen üblichen, meist militärischen Sinn dieses Wortes. Im Gegenteil: In den ältesten und überlieferten Texten heißt es partout nicht „Feind”, sondern gleichsam „Gegner”: nicht „polemios” oder „hostis”, sondern „echthros” oder „inimicus”. Liebe auch den, der dir nicht freundlich gesinnt ist!

Aber: einem, der gottgeschaffenes Leben vernichten will, nicht zu wehren — modern militärisch gesprochen: auf einen Aggressor nicht zu schießen — davon ist, wie die Wortwahl der beiden zitierten

Evangelisten beweist, keine Rede in eben der Bibel, in der geschrieben steht: „Niemand hat größere Liebe, denn die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde.”

Und was die Bergpredigt und die Feldrede von der Vergebung künden — woraus so gern wie zusammenhanglos zitiert wird, etwa die Sache mit der anderen Wange —, das ist, im Kontext der Bibel und drüber hinaus im Kontext der Epoche, Kritik am Talionsrecht (d. i. das Recht auf Vergeltung).

Nun war die Bestrafung „Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn um Zahn” (und so weiter) durchaus nicht ein israelitischer oder semitischer Rechtsgrundsatz, sondern juristisches Allgemeingut der ganzen vorchristlichen Alten Welt, vom Babylon Hammu-rabis bis zum frühen Römischen Recht.

Ja, die Jurisdiktion der Juden war ungleich flexibler, „humaner” als etwa Pythagoras, der die Gerechtigkeit in der Quadratzahl erblickte, weil sie, als gleichmal Gleiches, das Gleiche mit Gleichem vergilt.

Gnade vor Recht

Doch genau so lag es im Geist der Zeit, in der Christus lebte, vom Talionsprinzip allmählich ledig zu werden: fallweise Gnade vor Recht gehen zu lassen. Speziell die Stoa hat nicht bloß Gerechtigkeit, sondern nicht minder die Menschenliebe gelehrt und zu leben versucht.

Und in Indien wird die „Bhaga-vadgita” geschrieben, in welcher der König und Feldherr Arjuna 'durch Krishna, eine Inkarnation des Gottes Vishnu, also ermahnt wird: Es ist nun einmal deine soziale Funktion, die ihrerseits Ausdruck der All-Ordnung ist (oder christlich gesprochen: des göttlichen Heilsplans), in dem dir aufgezwungenen Krieg deine Feinde zu töten. Also macht nicht dieses Töten dich schuldig. Schuldig macht dich viel mehr der Versuch, dich herumzudrücken um deine Pflicht; wie andererseits auch, wenn du tötest aus Haß oder Rachsucht, oder um dich zu bereichern.

Töte, wo dir zu töten und andern zu sterben bestimmt ist — hier klingt der oben zitierte Lukas 12,25 an -, aber töte nicht aus (in heutiger Sprache) niederen Motiven!

So lautet auch jenes Gebot der Bibel, das Rechtsgeschichte gemacht hat — und wesentlich mehr als bloß Rechtsgeschichte! — mitnichten: „Du sollst nicht töten”, sondern expressis verbis: „Du sollst nicht morden”, das heißt: nicht rechts- und gesetzwidrig töten. Was übrigens auch den ganzen von Mose den Israeliten vermittelten Kodex erhellt, der sowohl die Tötung zur Strafe als auch die Tötung in kollektiver wie individueller Notwehr zuläßt.

Und nicht gegen dieses Gesetz, sondern eigentlich gegen die Talion hat Christus sein Leben gewagt und zur Nachfolge uns verpflichtet: Wir sollen die, die uns hassen, nicht ebenfalls hassen, oder, ins Positive gewendet: sie lieben. Dergestalt lieben, und zwar auch die Feinde: das meint also gar nicht, sich ihnen anpassen, meint nicht Appeasement, sondern, im blankesten Gegenteil: sie von der sittlich höheren Position her verstehen, sie akzeptieren, bejahen, als Werkzeug Gottes in Seinem uns uneinsehbaren Heilsplan — wie ein halbes Jahrtausend vor

Christus bereits die Propheten es vorgebildet haben.

Die christliche Liebe als Feindesliebe ist also keineswegs amor rei, sondern im völligsten Wortsinne amor fati: geistig die Liebe zum eigenen Schicksal, geistlich die Fügung in Gottes Ratschluß.

Man mag sich zwar dispensieren für den Moment. Aber früher oder später wird man doch eingeholt von diesem Ratschluß, von jenem Schicksal. Oder, um nun, anstatt mit der heidnischen „Bha-gavadgita”, mit Nietzsche zu reden, dem tiefsten Bedenker des Christentums: Das Entscheidende geschieht trotzdem.

Also: Von etwas so Existentiellem, wie es der Wehrdienst nun einmal ist, sich davonstehlen heißt, die Pistole in eines anderen Faust entsichern. Und sich vom Wehrdienst davonstehlen unter Berufung auf Christus heißt: Gott versuchen. Aber „täuscht euch nicht: Gott läßt keinen Spott mit siph treiben; was der Mensch sät, wird er ernten.”

Der Autor ist freier Schriftsteller. Er er-% hielt zuletzt den Peter Altenberg-Preis für Kurzprosa.

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