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Ärzte, Mütter - oder das Schicksal?

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Wieder einmal wird in Österreich nicht gegen eine änderungswürdige Realität, sondern gegen den rebelliert, der allzu deutlich ausgesprochen hat, etwas sei faul im Staate. Dozent Dr. Hans Czermak, Primarius im Gottfried von Preyerschen Kinderspital („Frühgeborenenzentrum“), versucht seit Jahren beharrlich, die von vielen Seiten gehätschelte Illusion von der optimalen medizinischen Betreuung der jüngsten Österreicher zu zerstören. Letztes Resultat dieses Tabuverstoßes ist ein ärztekamerales Disziplinarverfahren, das sich um die Frage drehen wird, ob Dozent Czermak in einem Gespräch mit einem Journalisten tatsächlich von einem „Mißstand“ gesprochen hat oder ob ihm dieser Ausdruck in den Mund gelegt respektive ob er nachträglich „hineininterpretiert“ wurde. Dozent Czermak selbst erklärt dezidiert: „Ich habe das Wort nicht verwendet, aber es ist im Zusammenhang mit der Säuglingssterblichkeit in Österreich völlig am Platz. Es handelt sich schließlich um einen Mißstand.“

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Wieder einmal wird in Österreich nicht gegen eine änderungswürdige Realität, sondern gegen den rebelliert, der allzu deutlich ausgesprochen hat, etwas sei faul im Staate. Dozent Dr. Hans Czermak, Primarius im Gottfried von Preyerschen Kinderspital („Frühgeborenenzentrum“), versucht seit Jahren beharrlich, die von vielen Seiten gehätschelte Illusion von der optimalen medizinischen Betreuung der jüngsten Österreicher zu zerstören. Letztes Resultat dieses Tabuverstoßes ist ein ärztekamerales Disziplinarverfahren, das sich um die Frage drehen wird, ob Dozent Czermak in einem Gespräch mit einem Journalisten tatsächlich von einem „Mißstand“ gesprochen hat oder ob ihm dieser Ausdruck in den Mund gelegt respektive ob er nachträglich „hineininterpretiert“ wurde. Dozent Czermak selbst erklärt dezidiert: „Ich habe das Wort nicht verwendet, aber es ist im Zusammenhang mit der Säuglingssterblichkeit in Österreich völlig am Platz. Es handelt sich schließlich um einen Mißstand.“

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Der Mißstand: Österreich hat nicht etwa eine hohe Säuglingssterblichkeit. Österreich hat die höchste Säuglingssterblichkeit aller westeuropäischen Industrieländer, ausgenommen Italien, wobei man aber ruhig davon ausgeben kann, daß Italiens ungünstiger Platz im internationalen Vergleich lediglich auf die Verhältnisse im Süden des Landes zurückzuführen ist. Im Falle Jugoslawien ist es nachweisbar so: „Bei den Tschuschen“, auf die man in Österreich so gerne hochmütig herabblickt, sterben zwar, im gesamtstaatlichen Durchschnitt, doppelt so viele Säuglinge (von jeweils 1000) im ersten Lebensjahr, was aber dem zurückgebliebenen Süden anzulasten ist — Slowenien hingegen hat die österreichische Säuglingssterblichkeit längst unterboten.

Die jüngsten vollständigen europäischen Vergleichsziffern, über die Österreichs Statistisches Zentralamt verfügt, stammen aus dem Jahr 1967, die Werte für 1969 sind angegeben, soweit vorhanden: in Österreich wird offensichtlich mit dem Leben neugeborener Kinder nicht mit der gebotenen Sorgfalt umgegangen. Darauf deuten zwei Indizien noch deutlicher hin als der internationale Vergleich.

Erstens: Nachdem die Mortalität im ersten Jahr bis 1969 langsam, aber sicher hatte gesenkt werden können, weist sie seither — und das ist kein Mißstand, sondern ein Skandal — eine unablässig steigende Tendenz auf.

Zweitens: Während überall auf der Welt die ärztliche Betreuung in den Großstädten besser ist als auf dem Land, hat die Säuglingssterblichkeit in Wien den steigenden gesamtösterreichischen Trend verstärkt mitgemacht, sie war 1971 erstmals seit vier Jahren wieder höher als im gesamtösterreichischen Schnitt:

Zur „Entschuldigung“ wurde bisher behauptet, die hohe Säuglingssterblichkeit in Österreich sei „auf die vielen Gastarbeiter“ zurückzuführen; aber auch dieses Argument wird vom Zahlenmaterial entkräftet: — erstens hat die Schweiz noch mehr Gastarbeiter als Österreich, zweitens wird die Gesamtstatistik durch den Ausländeranteil nur gering (in Österreich nur um 0,1 Promille!) beeinflußt:

Viel gefährlicher als das Neugeborene eines Fremdarbeiters lebt nämlich das uneheliche Kind in Österreich. Einer Todesquote von 25,0 pro Tausend im ersten Lebensjahr bei den ehelichen Kindern stand eine Säuglingsmortalität von 33,4 bei den unehelichen gegenüber!

Während die hohe Unehelichen-quote von 13 Prozent in Österreich die Gesamtstatistik der Säuglingssterblichkeit nur um 1,1 Promille verschlechtert, ist ihr Einfluß in den einzelnen Bundesländern sehr verschieden. Allerdings: Das Bundesland mit der höchsten Quote an unehelichen Kindern, nämlich Salzburg (21,1 Prozent uneheliche Kinder), hat nicht nur die geringste Säuglingssterblichkeit aller Bundesländer (20,6 Promille), es hat auch erreicht, daß die Mortalität der unehelichen Kinder hier mit 23,7 pro Tausend niedriger ist als die Gesamtsäuglingssterblichkeit in Österreich.

Auch „schwedische“ Beispiele

Dies lenkt den Blick auf befremdend große regionale Schwankungen. In Innsbruck etwa werden seit Jahren konstant schwedische Werte erreicht. 1971 starben im 1. Lebensjahr in Innsbruck-Stadt 20 von 1507 Lebendgeborenen oder 13,3 Promille. In Knittelfeld starb nur ein Säugling weniger, 19 — aber bei 469 Lebendgeburten. Das entsprach einer Säuglingssterblichkeit von 40,5“Pr6mih*e, wobei das Jahr 1971 auch in Knittelfeld nicht besonders aus der statistischen Reihe tanzte.

Es war, so Dozent Dr. Czermak, bisher in Österreich noch niemandem den Gegenwert von einigen Zentimetern Autobahn wert, zu untersuchen, warum die Säuglingssterblichkeit von Bezirk zu Bezirk um bis zu 200 Prozent und mehr (denn die Säuglingssterblichkeit im oberösterreichischen Freistadt ist mehr als dreimal so hoch wie in Innsbruck) schwanken muß. Und wie man dies ändern könnte.

Einwänden, für die hohe Säuglingssterblichkeit sei nicht die Medizin verantwortlich zu machen, da man ja die Gesamtsterblichkeit des ersten Lebensjahres nicht der Betreuung in den Geburtsspitälern zuschieben könne, begegnet Dozent Dr. Czermak mit dem Hinweis, von den im vergangenen Jahr in ganz Österreich verstorbenen 2832 Säuglingen seien nicht weniger als 1000 am ersten, weitere 300 bereits am zweiten Lebenstag gestorben.

Im ersten Monat sterben in Österreich mehr Kinder als in Schweden im gesamten ersten Jahr. Wobei gesagt werden kann, daß die Todesfälle jenseits des ersten Lebensmonats offensichtlich in vielen Fällen auf Nachlässigkeit zurückzuführen waren: Während die gesamte Nachsterblichkeit (Sterblichkeit zwischen dem 1. und dem 12. Lebensmonat) in Schweden 1,9 Promille beträgt, liegt sie in Österreich bei 7 Promille — allein an Erkrankungen der Atmungsorgane, sowie an Magen- und Darmkatarrh starben in Österreich 1971 von 1000 Säuglingen vom 2. bis zu 12. Monat drei von jeweils tausend.

Miserable Mutterberatung

Der Trend geht nicht zum Besseren. Die Resultate der ersten fünf Monate des Jahres 1972 zeigen, daß sich nichts geändert hat. 4 Österreichs Säuglingssterblichkeit ist ein Skandal, vor allem die Zunahme der Säuglingssterblichkeit in ganz Österreich und das schlechte Abschneiden der Bundeshauptstadt. Selbstverständlich, möchte man fast sagen, hat so mancher Maßgebliche versucht, die Verantwortung auf die Mütter abzuwälzen, die sich, wie man in letzter Zeit allen Ernstes hören konnte, nicht dazu bequemen können, die zu ihren und ihrer Kinder Wohl geschaffenen Schwangeren-und Mütterberatungsstellen aufzusuchen.

Diese jedoch, so wiederum Dozent Dr. Czermak, sind bei uns einfach nicht gut genug. Die Ärzte, die dort Dienst machen, seien zwar schlecht bezahlte Idealisten, aber es mangle an einer entsprechenden Ausbildung. Sie werden von ihrer Qualifikation her im Stich gelassen.

Ein Wiener Arzt, um Aushilfe in einer dieser Beratungsstellen gebeten: „Ich verstehe doch nichts davon!“

Und oft mangelt es an der Organisation, vielleicht auch am guten Willen oder beidem. Man könnte auch sagen: Am Service.

Oder wie sonst soll man es erklären, wenn in einer Wiener Schwangerenberatungsstelle mit Wartezeiten von durchschnittlich drei Stunden gerechnet werden muß? Wenn man manchmal „schon“ nach zwei, ein andermal aber erst nach vier Stunden drankommt?

Und wenn es nicht selten geschieht, daß die Frauen diese ganze Wartezeit, zusätzlich belastet und entwürdigt, mit dem Urinfläschchen in der Hand verbringen müssen?

Viele Faktoren wirken zusammen. Das Resultat: Nur in einigen Oststaaten und in jenen Ländern, aus denen die Gastarbeiter kommen, sterben mehr Babys als im Gastland Österreich. Ihr Tod ist nicht dem Schicksal zuzuschreiben, sondern der Sorglosigkeit, Selbstgerechtigkeit, Lieblosigkeit und Schlamperei einiger Verantwortlicher, die schleunigst zu lokalisieren, zu identifizieren und entweder zur Vernunft zu bringen, oder zu entfernen wären.

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