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Afghanistan, Drogensucht und Alkohol

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Wenige Wochen vor dem nächsten Parteikongreß und im elften Monat der Ära Gorbatschow zeigen sich die erwarteten Hemmungen im energischen Angriff des roten Zaren, sein Land zu reformieren und seine Bürger grundlegend zum Besseren zu erziehen.

Wenn es Gorbatschows „Reform" dient, nehmen sich die Medien die Aufforderung ihres Führers nach mehr Freimütigkeit zu Herzen. So der aufsehenerregende Leserbrief an die „Komsomolskaja prawda" über Veteranen von Afghanistan, die, angeekelt von den verbrecherischen Machenschaften der korrupten Bürokraten in der Heimat, das Gesetz in die eigene Hand nehmen wollen: „Wir sahen Freunde in Afghanistan sterben", schreibt ein alter Kämpfer in Kabul, „und sie starben für etwas Wertvolles, nicht für die Korruption, die wir alle nach der Heimkehr sahen."

Der Kampf gegen die ererbte Volkskrankheit Alkohol ist jene Thematik, die mehr und mehr im Blätterwald behandelt wird. Eine Trinkernation ist nicht so leicht zu Abstinenzlern oder wenigstens Wein- und Bierliebhabern umzuerziehen. Schließlich sind auch die Staatsdiener von einer rigorosen Durchsetzung der Anti-Alkohol-Kampagne aufgeschreckt, da die großen Einnahmen aus den harten Getränken dünner fließen.

Soziale Entzugserscheinungen tragen den Keim von Aufstand und Unruhe in sich. Eine andere Gefahr wird gegeißelt: das Ausschankverbot zu gewissen Tageszeiten und die Schließung vieler Geschäfte treibt die illegalen Hersteller in den Untergrund und in die Zuflucht zum selbstgemachten Gebräu „Samogon".

Allein ein Aufhalten des Feldzuges gegen den Volksfeind Nummer eins ist nicht in Sicht. Die Ernüchterungskampagne ist eine ernstliche Probe für die Entschlossenheit der Mannschaft Gorbatschows. Rückzug und Nachlassen der Zügel wären eine politische Niederlage, dazu angetan, die Führung in ihrem Bestreben unglaubwürdig erscheinen zu lassen.

Drogensucht ist ein Problem, dessen Existenz nun endlich auch in den Veröffentlichungen zugegeben wird, weil es den Verantwortlichen im Land der Selbstversorgung mehr als ihnen lieb zu schaffen macht. Die selbstgefällige Versicherung, „bei uns gibt es keine Narkomanen", noch vor Monaten gehört, ist vergessen.

Die Wochenzeitschrift „Nedel-ja" malt denn auch erstmals auf einer ganzen Seite in den Geständnissen eines 14jährigen Süchtigen die fatalen Folgen aus: „Ich versenkte die Nadel in meine Vene und stürzte kopfüber auf die Straße ins Niemandsland. Ich erfuhr vier Stunden des Vergessens* fand den Weg in den Himmel, wirbelte unter den Sternen, auf tropischen Plantagen... ich öffnete meine Augen und verlangte nach mehr."

Zum ersten Mal sprach damit die Presse von einem Phänomen, das die meisten Sowjetbürger aus eigener Erfahrung kennen. Jugendprobleme gibt es auch in der Sowjetunion, selbst wenn sie von den Medien bisher totgeschwiegen oder als westliche Degenerationserscheinungen gebrandmarkt worden sind.

Die Öffnung in besonders schwerwiegenden Fällen, die den Machthabern besonders am Herzen liegen, wie Bürokratismus, Afghanistan, Alkohol, Drogensucht und Verbrechen, heißt noch lange nicht Auflockerung der dogmatischen Starre, wie sie von Gorbatschows rechter Hand Je-gor Ligatschow, dem Ideologiepapst, im Visier gehalten ist.

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