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Ajtmatows Bekenntnis

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„Jesus Christus ist das erhabenste moralische Symbol“, erklärte kürzlich der bekannte sowjetische Schriftsteller Dschingis Ajtmatow anläßlich der Präsentation seines letzten Romans „Das Schafott“ in Italien. Eine der in diesem Roman auftretenden Gestalten ist Jesus Christus.

Ajtmatow, einer der im Ausland am meisten übersetzten sowjetischen Autoren, seiner Abstammung nach Kirgise, führte in einem Gespräch mit der italienischen Tageszeitung „La Repub- blica“ aus, daß es für jemanden, der in der europäischen Kultur aufgewachsen sei, ganz natürlich sei, wenn man über Moral spreche, sich „auf die Figur desjenigen zu berufen, der nach der Überlieferung vor zweitausend Jahren auf dem Kalvarienberg außerhalb Jerusalems gekreuzigt worden ist“.

Der sowjetische Schriftsteller ist Mitglied der kommunistischen Partei, auch in offiziellen Kreisen seiner Heimat hoch geschätzt. Das läßt seine Bekenntnisse umso erstaunlicher erscheinen.

Ajtmatow weiter:

„Ich stelle mir manchmal eine neue historische Epoche vor. Eine Zeit, in der verschiedene Religionen vereinigt werden, damit aus jeder von ihnen das jeweils Beste herausgenommen werden kann. Ich denke, daß der Schriftsteller imstande sein sollte, von allen geschichtlichen und gegenwärtigen Erfahrungen der Menschheit die tiefste Wahrheit herauszufinden.“

Auf diese Weise sei er auf Jesus Christus gekommen. „Ich, aufgewachsen im Sozialismus, habe das Bedürfnis verspürt, mich an diese universale Quelle zu wenden. Denn wir haben der Welt zwar versprochen, den Menschen frei und glücklich wie nie zuvor zu machen, und haben auch etwas in dieser Richtung erreicht, aber sind doch weit davon entfernt, es zu verwirklichen.“ Viele große Männer und Propheten habe es im Lauf der Geschichte gegeben,

doch „Christus überlebt alle, denn er wendet sich gleichzeitig an den Menschen des zweiten wie an den des zwanzigsten Jahrhunderts. Christus ist eine lebendige Figur. Er war der Anfang der Anfänge“, sagt Ajtmatow.

In seinem letzten Roman „Das Schafott“, der bereits voriges Jahr in einer sowjetischen Literaturzeitschrift erschienen ist, stellt er anhand des Drogenproblems die philosophische Auseinandersetzung zwischen dem Guten und dem Bösen dar, in der realistisch gezeichnete Bilder ebenso Platz haben wie die Figuren von Jesus und Pilatus. Im Roman wird ein Ex-Seminarist von Drogenhändlern symbolisch gekreuzigt. Es ist zweifellos ein zusätzliches Verdienst Ajtmatows, in dieser Prägnanz die Symbolträchtigkeit dieses offenbar nicht nur den Westen betreffenden Problems verwendet zu haben. Vor einigen Jahren noch wäre dieser Roman ohne langwierige Aufklärungen über die sogenannte „Ungefährlichkeit“ der darin enthaltenen Thesen nicht möglich gewesen.

Ajtmatow bekennt, es sei von ihm noch nichts unveröffentlicht geblieben, allerdings habe er manches vor der Öffentlichkeit zurückgehalten. „Wir Sowjets haben eben“, so Dschingis Ajtmatow, „angefangen vom alltäglichen Leben bis zur allgemeingültigen Ideologie, alles auf den Klassenkampf reduziert. Doch dies ist ein Anachronismus, der die Gedankenfreiheit paralysiert. So wird man die heutige Welt nicht begreifen können.“ Diese Ausschließlichkeit habe man aber in der Sowjetunion jetzt überwunden. Und die offizielle Parteidoktrin? „Ich leugne sie nicht, sage aber nur, daß sie mir nicht genügt. Ich möchte sie vielmehr durch etwas Persönliches noch bereichern.“

Ob die proklamierte Politik der Öffnung also doch auch für die Künstler und Intellektuellen Wirkungen zeige? Ja, denn die sowjetischen Schriftsteller fänden jetzt großzügige Arbeitsbedingungen vor, und nunmehr sei von Kritik niemand ausgenommen. Die Autoren würden zudem nun aus-

schließlich nach ihrer künstlerischen Qualität beurteilt.

„Es gibt jetzt auch ein großes Verlangen, unser kulturelles Erbe wiederzuentdecken, dessen wir lange Zeit beraubt waren und dessen sich zu erinnern zu Breschnjews Zeiten nahezu verboten war“, sagt Ajtmatow. „Wir sind gegenwärtig in einem Prozeß der Selbstläuterung, die befreiend wirkt. Um vorwärtszukommen, müssen wir uns vom Stillschweigen der Vergangenheit befreien können“.

Es gebe ein wiederkehrendes Thema im sowjetischen Roman von heute: der geistige Verfall des Volkes, seine Tristesse, sein Leiden und gleichzeitig sein Bedürfnis, die eigenen Werte wiederzu finden und an die Zukunft zu glauben. „Denn es gibt bei uns Leute, die imstande sind, den Schritt nach vorne zu tun, und andere, die hinten bleiben, auf die eigenen unmittelbaren Bedürfnisse fixiert. Und gerade die muß man verstehen und sich in ihr Leiden hineinfühlen. Für dieses Leiden gibt es soziale Ursachen, aber auch andere. Und das ist auch der herrschende Hintergrund in der heutigen Literatur. Sie macht nichts anderes, als an die große Tradition der russischen Literatur anzuknüpfen, die ja immer in schmerzhafter Weise die schwierigen Situationen im Leben des Volkes wiedergegeben hat. Das ist die Tradition, die heute wieder aufgenommen wird.“

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