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„Aktion scharf" in Belgrad

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Jugoslawiens Konsumenten stehen noch schwerere Zeiten bevor. Das Auftauen der Preise für Ver-brauchsgüter führt zu einer beträchtlichen Teuerungswelle. Das könnte die ohnedies schon latent vorhandene soziale Unrast weiter vergrößern. Um eine sich ausweitende Opposition zu verhindern, hat das Regime zum Schlag gegen Kritiker ausgeholt.

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Jugoslawiens Konsumenten stehen noch schwerere Zeiten bevor. Das Auftauen der Preise für Ver-brauchsgüter führt zu einer beträchtlichen Teuerungswelle. Das könnte die ohnedies schon latent vorhandene soziale Unrast weiter vergrößern. Um eine sich ausweitende Opposition zu verhindern, hat das Regime zum Schlag gegen Kritiker ausgeholt.

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Das jugoslawische Fernsehen hatte am 1. Mai für seine Seher einen besonderen Leckerbissen parat: den Mitschnitt eines Konzerts von einem der bekanntesten Popstars des Landes. Als die vom Bauernmädchen zur populären Schlagersängerin avancierte Blondine ein Lied zu Ehren des verstorbenen Staatschefs Josip Broz Tito anstimmt, schwenkt die Kamera ins Publikum. Ja, und da sieht man bei so manchen Zuhörern die Tränen fließen.

Auch vier Jahre nach Titos Tod (Jahrestag war der 4. Mai) lebt der Tito-Kult in Jugoslawien fort. In den zahlreichen Buchgeschäften der Belgrader Fußgängerzone beherrschen Bücher von und über Tito auch jetzt noch die Auslagen. Tito-Porträts hängen nach wie vor in Büros und in Schaufenstern von vielen Geschäften, in Belgrad ebenso wie etwa jin der Urlauber-Metropole Dubrovnik.

Nicht nur Parteikader, auch einfache Leute haben die Tito-Ära als eine Art.„goldenes Zeitalter" in Erinnerung. Und die Nostalgie, die Sehnsucht nach der „guten alten Zeit" wird offensichtlich umso stärker, je trister die Bevölkerung Jugoslawiens die Gegenwart empfindet.

Die Tito-Ära jedenfalls gilt in Jugoslawien noch immer als ein Tabu. Wer es bricht, hat nichts Gutes zu erwarten. Jüngst mußte dies auch der Journalist Rajko Djuric, Redaktionsmitglied des bekannten Belgrader Blattes „Po-litika", erfahren. Er hatte in der Literaturzeitschrift „Knjizvna Ree" Tito beschuldigt, vor seinem Bruch mit Stalin 1948 selbst ein Stalinist gewesen zu sein.

Folge dieser Ketzerei, die dem offiziell vertretenen Tito-Bild völlig entgegensteht: Djuric erhielt von der Chefredaktion der „Politika" Hausverbot und wurde von seinem Posten suspendiert.

Uberhaupt weht jetzt) auch in dem als liberalste Stadt'Jugoslawiens geltenden Belgrad ein schärferer Wind, der vor allem die intellektuelle Opposition trifft. Die vorübergehende Verhaftung des prominenten Regimekritikers Milovan Djilas und 27 weiterer Intellektueller während des Oster-wochenendes ist das deutlichste Indiz dafür. Dazu kam Anfang Mai der mysteriöse Tod eines der vorübergehend Festgenommenen; des Dissidenten Radovic.

Erklärungen für diesen bisher größten Schlag des Regimes gegen Systemkritiker seit wenigstens eineinhalb Jahrzehnten gibt es mehrere. Eine davon: Drahtzieher der .^.ktion scharf" gegen Oppositionelle sei der bisherige Innen- und Geheimdienstminister Stane Dolanc gewesen, der künftig der Vertreter Sloweniens im Staatspräsidium sein wird.

Dolanc, in seiner bisherigen Funktion angeblich nicht gerade ein erfolgreicher Politiker, habe zum Schluß seiner Amtstätigkeit seine „Tüchtigkeit" noch einmal unter Beweis stellen und seinem Nachfolger im Innenministerium ein „geordnetes Haus" übergeben wollen.

Aufschlußreich ist jedenfalls auch der Zeitpunkt des Präventivschlages gegen die Regimekritiker. Denn er erfolgte wenige Tage bevor die Belgrader Bundesregierung am 3. Mai den im Dezember vorigen Jahres verhängten Preisstop für Konsumgüter zum Teil aufhob. Dieses Auftauen der Preise war eine der Bedingungen, die der Internationale Währungsfonds (IMF), westliche Banken und westliche Regierungen für die Gewährung weiterer Milliarden-Kredite an das bereits mit 20 (offiziell) beziehungsweise 40 Milliarden US-Dollars (inoffiziell) im Westen verschuldete Land stellten.

Eingefroren bleiben auch weiterhin die Preise für Energie, Erdöl, Kunstdünger, Brot, Milch, Zigaretten und für die öffentlichen Verkehrsmittel. Dagegen dürften nun die bisher künstlich niedrig gehaltenenPreisefürVerbrauchs-. guter, wie Schuhe, Kleidungsstücke oder Möbel und für weniger notwendige Lebensmittel drastisch in die Höhe schnellen.

Der erwartete Preisschub wird wohl in erster Linie wieder die Arbeiterschaft in Jugoslawien treffen, die durch die in den letzten Jahren galoppierende Inflation (1983: 60 Prozent) ohnedies schon zu der am schwersten unter der Wirtschaftskrise leidenden Bevölkerungsgruppe zählte. Die Realeinkommen, die bereits von 1980 bis 1983 um 25 Prozent zurückgingen, dürften weiter absinken. Dabei muß man sich vor Augen halten, daß jeder fünfte jugoslawische Lohnempfänger weniger als den Durchschnitt von rund 12.000 Dinar (etwa 1.700 Schilling) verdient (siehe zur wirtschaftlichen Situation Jugoslawiens auch FURCHE Nr. 14/84).

Die bereits latent vorhandene Mißstimmung weiter Teile der Bevölkerung Jugoslawiens über die wirtschaftliche Situation des Landes könnte sich für das Regime gefährlich ausweiten, wenn die Bürger ihren Lebensstandard weiter so rapid schwinden sehen. Und besonders gefährlich wird die politische Situation für ein kommunistisches Regime vor allem dann, wenn sich eine unzufriedene Arbeiterschaft mit der intellektuellen Opposition verbündet — wie das Beispiel Polen gezeigt hat.

Es ist deshalb also nicht auszuschließen, daß das Belgrader Regime gerade jetzt zum großen Schlag gegen die ihm gegenüber kritisch gesinnten intellektuellen Kreise ausholte, um von vornherein zu verhindern, daß sich deren „Freie Universitäten" zu einem Kristallisationspunkt einer sich ausweitenden, auch die Arbeiterschaft miteinschließenden Opposition ausbildete.

Zur Wirtschaftskrise, der aufkeimenden Opposition, der sozialen Unrast kommt das weiterhin ungelöste NationalitätMi-Pro-blem und — für eine dem Atheismus verpflichtete Staatsführung besonders peinlich — eine religiöse Renaissance im überwiegend katholischen Kroatien und in den katholischen Bezirken von Bosnien und Herzegowina (die FURCHE wird darauf noch zurückkommen).

Probleme genug also für ein Regime, das vier Jahre nach Titos Tod einen alles andere als entschlossenen Eindruck macht. Die dringend erforderlichen Wirtschaftsreformen werden nur halbherzig in Angriff genommen, hier wagen die jugoslawischen Kommunisten einfach nicht den Sprung über den eigenen Schatten; wohl vor allem auch darum nicht, weil die Widerstände der gigantischen Selbstverwaltungs-Bürokratie und der orthodoxen Parteigenossen einfach zu stark sind. Folge: Jugoslawien wurstelt sich fort — hinein in eine für das Regime immer gefährlicher werdende Krise...

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