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Digital In Arbeit

Akzeptierter Mißstand ?

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Wer nie schreiben und lesen ge- oder es wieder verlernt hat, wird vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt. In Wien berieten Fachleute, was für diese Randgruppe getan werden kann.

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Wer nie schreiben und lesen ge- oder es wieder verlernt hat, wird vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt. In Wien berieten Fachleute, was für diese Randgruppe getan werden kann.

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100.000 Menschen sind es in Österreich, etwa drei Millionen in der Bundesrepublik und 27 Millionen in den USA, deren Schreibund Lesekenntnisse nicht ausreichen, „um in der Gesellschaft zu funktionieren“.

Bei der Internationalen Tagung „Funktioneller Analphabetismus“ in Wien (organisiert vom

Stadtschulrat, der Arbeiterkammer, dem Institut für Jugendliteratur und Leseforschung und dem Pädagogischen Institut der Stadt Wien) nahm man sich einen Tag lang der Probleme dieser oft genug sozial und wirtschaftlich isolierten Menschen an.

„Analphabetismus trotz Schulbesuch ist kein Phänomen unserer Zeit“, betonte die EG-Koordi- natorin für Alphabetisierung, Elisabeth Fuchs-Brüninghoff, „durch die rasante technische Entwicklung der Arbeitswelt, und den Rückgang manueller Tätigkeiten sind Analphabeten heute

jedoch vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen.“ Ältere Sekundäranalphabeten (Menschen, die lesen und schreiben ge- und wieder verlernt haben) vergaßen oft in Jahrzehnten am Arbeitsplatz ihre Schulkenntnisse. Für viele freilich gilt dasselbe wie für die wachsende Zahl jugendlicher Analphabeten: Sie haben nie richtig gelernt, ihre Kenntnisse sinnvoll anzuwenden.

Betroffen: die unteren sozialen Schichten. Kinder, denen von klein auf emotionale und materielle Zuwendung vorenthalten wird, sind besonders gefährdet. Die Kommunikationsgewohnheiten der Eltern, aber auch eine geringe Wertschätzung von Schulbildung innerhalb der Familie, können ein Kind grundsätzlich entmutigen und zu Lernhemmungen führen. Bereits im Kindergartenalter könnten aber derartige Lernstörungen erkannt und individuell behoben werden.

Doch passiert — in zu großen Gruppen und mangels spezifischer Ausbildung der Betreuerinnen - meist genau das Gegenteil. Schlecht sprechende Kinder werden als dumm und uninteressiert abgestempelt und isoliert.

Mit dem Schuleintritt sind diese Kinder dann oft nicht mehr fähig, unter Schulbedingungen — also in einer Gruppe von 20 bis 30 Kindern - zu lernen. Gibt es in der Familie keine Tageszeitungen und Bücher und besteht hier das Gespräch vor allem aus Befehlen und wenigen Erklärungen, ist der Teufelskreis perfekt.

Gertrud Kamper, in Berlin mit der Problematik des Sekundäranalphabetismus praktisch und wissenschaftlich befaßt, sieht ab dem Schuleintritt die Schule für Lernhemmungen bei Kindern verantwortlich. Daß jedes Jahr neuerlich Analphabeten aus der Grundschule entlassen werden, bezeichnet sie als Versagen des Schulsystems, nicht der Kinder. Die Schulreifeuntersuchungen bewirken heute in Deutschland wie in Österreich meist ein Zurückstellen bei Unreife um ein Jahr, selten Förderung.

Es folgen für das Kind leidvolle und demütigende Erfahrungen in der Schule und später bei der Vermittlung von Lehrstellen und Arbeitsplätzen. Die Außenseiterrolle ist damit vorprogrammiert. Meist schafft sie persönliche Abhängigkeit und Arbeitslosigkeit.

Strategien, um den Analphabetismus trotz Schulbesuch zu verhindern, müßten also im Schul- und Bildungssystem fest verankert werden. Und zwar sowohl im Vorschul- und Grundschulbereich wie innerhalb der Erwachsenenbildung. Alphabetisierungskurse werden zunehmend in Anspruch genommen, haben jedoch nur Erfolg, wenn auch die Anwendung von Schreib- und Lesekenntnissen intensiv geübt und der Kursleiter zu einer ermutigenden Bezugsperson wird.

Ein Beispiel im Grundschulbereich in Wien, das sich bewährt, ist die Arbeit der Stützlehrer, die Kinder mit Lern- und besonders mit Lese- und Rechtschreibproblemen in der Unterrichtszeit individuell in Kleingruppen fördern.

Marion Bergk-Mitterlehner, Lehrbeauftragte an der Universität Klagenfurt, stellte Modelle für Volksschulen vor, mit denen der lustvolle Umgang mit Buchstaben

und Sprache geübt werden kann. „Von diesen Übungen“, meinte sie, „profitieren alle Schüler — der eine überwindet damit die Hürde vom Analphabeten zum notdürftig des Lesens und Schreibens Mächtigen, der andere vielleicht vom gerade noch entsprechenden Schüler zum lustvollen Leser.“

Daß es für solche Projekte, aber auch für die Erwachsenenkurse immer zuwenig Geld gibt, deute darauf hin, meinte Elisabeth Fuchs-Brüninghoff über ihre Erfahrungen in der BRD und der EG, daß zur Zeit noch immer die Spaltung der Gesellschaft in hochqualifizierte Arbeitskräfte und vom Arbeitsmarkt völlig Ausgeschlossene betrieben wird, an deren Integration man bisher nur theoretisch Interesse zeigt.

Dasselbe wie in den USA darf bei uns nicht passieren. Dort faßt man den Begriff der Alphabetisierung so weit, daß auch die Fachsprachförderung für Technikstudenten unter diesem Titel bezahlt wird. Um die „Sozialfälle“ müssen sich weiterhin karitative Organisationen—unbezahlt— annehmen.

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