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ALADIN ZWISCHEN POTEMKIN UND RASPUTIN

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Die Entstehung von sechs unabhängigen Moslem-Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion in Zentralasien hat zu einem rasanten Umbruch geführt, der Prognosen vorläufig kaum zuläßt. Fest steht, daß sich in puncto Weltislam eine Schwergewichtsverlagerung sondergleichen ergibt.

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Die Entstehung von sechs unabhängigen Moslem-Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion in Zentralasien hat zu einem rasanten Umbruch geführt, der Prognosen vorläufig kaum zuläßt. Fest steht, daß sich in puncto Weltislam eine Schwergewichtsverlagerung sondergleichen ergibt.

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Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Usbekistan, Aserbeidschan und Turkmenien - das sind die sechs neuen Republiken. Dazu könnten sich noch Abspaltungen aus der Republik Rußland gesellen, hat doch das autonome Gebiet Tschetschenen-Ingusch im Kaukasus (siehe Graphik Seite 9) bereits seine Unabhängigkeit erklärt, und das nur wenig östlich von Moskau gelegene Tartaristan hat ebenfalls seinen Anspruch darauf angemeldet. Dazu könnten sich noch einige andere gesellen, wie zum Beispiel die Baschkiren.

Insgesamt haben wir es mit 50 bis 60 Millionen Menschen islamischer Religionszugehörigkeit zu tun, die sich nun an den Mittleren Osten anschließen und enge Beziehungen zu Pakistan, Afghanistan, Iran, zur Türkei und zur arabischen Welt anknüpfen.

Solange die Sowjetunion bestand, sahen sich die moslemischen Republiken als unterjochte Kolonialgebiete. Beobachter erwarteten einen Rassenkrieg zwischen den dort ansässig gewordenen Europäern und der asiatischen Bevölkerung. In den siebziger Jahren befürchteten die Russen zudem ein chinesisches Eingreifen zugunsten der Kasachen und Kirgisen.

An Stelle der Asiaten erhoben sich jedoch die nicht-russischen Europäer, also Balten, Georgier und Moldawier als erste gegen Moskau, gefolgt von den Ukrainern. In Zentralasien blieb es erst einmal vergleichsweise ruhig. Aseris, Usbeken, Turkmenen, Kasachen, Kirgisen, Tartaren und andere moslemische Völkerschaften sprechen Dialekte des Türkischen und kennen die Vorstellung von einem Großreich aller Turkvölker. Das wird manchmal Turan genannt, manchmal Turkistan, so wie man früher von der Gesamtheit jener an Iran, Afghanistan und China grenzenden Gebiete als von „Russisch Turkistan" sprach -im Gegensatz zu „Chinesisch Turkistan" (Sinkiang).

Amerikanische Experten diskutierten bereits Anfang der achtziger Jahre darüber, wie das in Zentralasien vielleicht entstehende Machtvakuum auszufüllen sei, damit nicht China sich an den Überresten des Sowjetimperiums gütlich tue. Die Amerikaner sind nicht die einzigen, die sich zur Übernahme von Verantwortung verpflichtet fühlen. Iraner und Saudi-Araber sind seit Jahren um die Glaubensbrüder bemüht, wobei die Saudis im Vorteil sind, da es sich bei den Turkvölkem in der Mehrheit um Sunniten handelt.

Die Türkei hielt sich offiziell erst einmal zurück, doch werden die pantürkischen Losungen lauter und einzelne politische Parteien stehen mit den Volksgenossen in Zentralasien in Verbindung. Um Aserbeidschan ist ein Ringen zwischen Ankara und Teheran entbrannt, und es ist noch nicht entschieden, welche Bindung stärker ist - die der türkischen Sprache oder die der schiitischen Konfession. Die Aseris sind Schiitien, aber keine Perser, sondern Türken.

Der Islam ist in den alten Kultur-Zentren wie Samarkand, Taschkent und Buchara aus der Versenkung aufgetaucht, doch hat er als Rivalen einen lokalen Nationalismus, der nicht viel auf die Religion gibt. Wird sich gerade hier der Kommunismus behaupten? Als Alternative gibt es ja nicht nur die freie Marktwirtschaft, sondern auch den faschistoiden Islamismus iranischeroderpakistanischer Prägung. Dadurch erhalten die „sozialistischen Errungenschaften" einen anderen Stellenwert; das gilt besonders für das Bildungswesen. Die Frauen aus der städtischen Bildungsschicht werden dem Islamismus heftigen Widerstand leisten. Konflikte wird es ferner deshalb geben, weil die für viele Teile der einstigen Sowjetunion typische Synthese aus Mafia und Nomenklatura (Verwaltungsbeamte und Parteibonzen) sich hier in die Tradition der Feudalherrscher (Khane) gestellt hat und unerschütterlich zu sein scheint.

Muß es zu einem Massenauszug der Russen kommen, vergleichbar dem Auszug von mehr als einer Million französischer Siedler aus Algerien? Das landwirtschaftlich nicht unbedeutende Usbekistan beliefert Rußland und stünde ohne ausreichenden Absatzmarkt da, wenn auch die an Nahrungsmitteln knappen Iraner und Araber einiges abkaufen würden.

Tadschikistan dürfte der brisanteste Fall sein, da hier besondere Beziehungen zu China (zu den dortigen Tadschiken) und nach Afghanistan bestehen (der größere Teil Tadschikistans liegt in Afghanistan). In Umkehrung der aserbeidschanischen Verhältnisse ist hier die Sprache Persisch, doch die Menschen sind Sunniten, sind also nach Afghanistan und Pakistan hin orientiert, weniger nach Iran. Das islamische (teils fundamentalistische) Element ist hier stärker ausgeprägt als in Kasachstan oder in Kirgisien.

Mit was für einem Islam haben wir es in Zentralasien zu tun? Wie andere Religionen auch, stellt sich der Islam bekanntlich recht verschieden dar, und zwar nicht nur in verschiedenen Epochen, sondern auch in verschiedenen Regionen. Kirgisien ist am „asiatischsten" in dem Sinne, daß es weniger von den Kulturen des Mittleren Ostens geprägt ist als zum Beispiel das im Süden angrenzende Tadschikistan, das wie ein Fortsatz Afghanistans oder Pakistans wirkt. Auch viele Kasachen scheinen ihren buddhistischen Verwandten in der Mongolei näher zu stehen als den vom Mittleren Osten geprägten Usbeken. Unter Kasachen und Kirgisen hat deshalb der Islamismus nur geringe Chancen, im Gegensatz zum Kaukasus, wo unter Tscherkessen und Tschetschenen ausgeprägte Beziehungen zum mittelöstlichen Fundamentalismus bestehen. ' Nicht nur für den Islam, sondern auch für die übrigen Religionsgemeinschaften in der ehemaligen Sowjetunion galt: Atheismus-Unterricht wurde in großem Umfang betrieben, doch im wesentlichen auf dem Papier - zwecks Sollerfüllung wurden Zahlen aufgebauscht. Oft wurde nach Potemkinscher Tradition verfahren. In den moslemischen Ländern Zentralasiens hat sich ein Volksglaube erhalten, der mehr Aberglaube und Wunderglaube ist als alles andere. Ironischerweise hat damit das Sowjetsystem speziell jene Art von Religiosität gefördert, die es ausrotten wollte, also jenen finsteren Aberglauben, der Marx, Lenin und andere eine so vehement antireligiöse Position beziehen ließ.

Vor dieser Art von Islam schaudern nicht nur kommunistische Aufklärer zurück. Islamistische Intellektuelle von tunesischen oder sudanesischen Universitäten packt das Grauen, wenn sie mit dem „islamischen" Volksglauben Zentralasiens konfrontiert werden. Bereits zur Zeit der Oktoberrevolution war der landesspezifische Islam zu einem Anachronismus geworden, und während der letzten 75 Jahre hat sich nichts daran geändert, sodaß wir jetzt auf eine Gedankenwelt aus lang verflossenen Zeiten stoßen, auf lebendige Figuren eines historischen Museums.

Letztlich sind jedoch die Reinheit des Glaubens und die unterschiedlichen Koraninterpretationen weniger entscheidend als das nukleare Arsenal, die Raketenbasen und das technische Fachwissen, das sich vornehmlich in Kasachstan ballt. Kasachstan ist nicht nur die flächenmäßig größte unter den neuen moslemischen Republiken, es ist auch durch seinen dynamischen und fotogenen Präsidenten Nür-Sultän Nazar-Bey(ev) stärker ins Rampenlicht getreten. Saudische Millionäre investieren hier mehr als anderswo und vielerorts hofft man auf ein Bombengeschäft mit Kasachstan.

Dabei wird nicht nur die kommunistische Vergangenheit Nazar-Beys übersehen, sondern auch die Tatsache, daß Moslems nur noch knapp die Hälfte der Bevölkerung Kasachstans ausmachen. Die technischen Errungenschaften liegen überwiegend in den Händen von Russen, die hier ansässig geworden sind.

Sollte die halb-asiatische, halbeuropäische Bevölkerung Kasachstans es schaffen, miteinander auszukommen, dann wäre hier in der Tat ein Potential sondergleichen gegeben. Ganz gleich welch ethnischer Zugehörigkeit, im Vertrieb ihrer Waffenarsen lle sehen alle ehemaligen Sowjetbürger die große Chance, und die reichen Ölstaaten - allen voran Iran -sind ganz versessen darauf. Da soll es einem russischen Fabrikleiter in Kasachstan nur recht sein, als Landes-herrn einen Moslem zu haben, der ob seiner Religionszugehörigkeit die besseren Aussichten hat, Verbindungen zu den Ölscheichs herzustellen.

Kommentatoren in den USA und Israel weisen daraufhin, daß die „Islamische Bombe" damit Wirklichkeit geworden sei. Jetzt könne man die Pakistanermit ihren beiden noch nicht einmal zusammengesetzten „Fußbällen" vergessen und müsse die gesamte Aufmerksamkeit auf Kasachstan als neuen Gefahrenpunkt Nummer eins lenken.

In der Tat treten sich in Alma Ata Iraker, Iraner, Pakistaner, Libyer Saudis und andere gegenseitig auf die Füße. Alle möchten sie die fertigen Bomben, ob mit roter Beschriftung oder grüner, in kyrillischen Buchstaben oder arabischen.

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