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Alarmsignale aus Ankara

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Als der 1. Mai vorübergegangen war, ohne in den Straßen Istanbuls und Ankaras die Spuren blutiger Kämpfe zwischen Demonstranten und staatlichen Ordnungskräften zu hinterlassen, atmete ein ganzes Land erleichtert auf. Erst vor zwei Jahren waren nach Zusammenstößen zwischen Rechts- und Linksextremisten bei einer Mai-Veranstaltung 100 Menschen auf dem Taksim Platz in Istanbul verblutet. Aber der unblutige Verlauf des diesjährigen 1. Mai konnte nicht darüber hinwegtäuschen: die Türkei steckt in einer tiefen finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Krise!

Die größte Bedrohung für die türkische Demokratie geht zweifelsohne vom politischen Extremismus aus. 1974 ist der Terrorismus von links und rechts wie eine Flutwelle über dieses Land hereingebrochen, nachdem durch die Kriegsrechts Periode von 1971 bis 1973 die politischen Gewaltakte praktisch eingedämmt worden waren. In den letzten fünf Jahren haben sich die Gräben indessen immer weiter aufgetan, die innenpolitische Frontstellung ist noch schärfer geworden. Mehr als 1400 Menschenleben hat der versteckte Bürgerkrieg allein seit Jänner 1978 gekostet.

Der Terror von rechts geht vor allem von den paramilitärischen Kommandos „Idealisten“ und „Graue Wölfe“ des Führers der Partei der Nationalen Bewegung, Alparslan Türkes, aus. Diese Rechtsextremisten haben nach linkem Vorbild einen offensichtlich recht erfolgreichen „Marsch durch die Institutionen“ angetreten, sich in verschiedenen Schlüsselpositionen staatlicher Institutionen festgesetzt. Was dazu geführt haben soll, daß sich etwa innerhalb der Polizei eine „Links“- und eine „Rechtspolizei“ gebildet habe, die jeweils nur die Terroraktionen der Gegenseite verfolge.

Auf der Unken Seite sind es vor allem der linksrevolutionäre Gewerkschaftsverband, die marxistische Türkische Arbeiterpartei und andere linksextreme Splittergruppen, die vor Gewalt nicht zurückschrecken und wiederholt - zuletzt am 1. Mai -Armee und Polizei durch provokantes Verhalten zum Eingreifen veran-laßten.

Versucht man die Ursachen und Hintergründe des Terrorismus in der Türkei auszuforschen, stößt man auf ein recht unvollkommenes Bild. Nur soviel: Das Land hat einen unkontrollierten Zivilisationsprozeß mitgemacht. Einerseits ist die Verwestlichung mit Riesenschritten vorangegangen, anderseits ist ein Großteil des Landes noch durch und durch agrarisch strukturiert.

Eine Konsumgesellschaft nach amerikanischen und europäischen Vorbildern trifft hier also auf Strukturen, die an vergangene Jahrhunderte erinnern: Frustration, Hoffnungslosigkeit und Bitternis seien die Folgen - so türkische Sozialwissenschaftler.

Aber nicht nur vom Terrorismus allein gehen große Gefahren für die türkische Demokratie aus: das Land befindet sich in einer Wirtschaftslage am Rande der Katastrophe. Eine Auslandsverschuldung von über 13 Milliarden Dollar, chronische Devisenknappheit, Mangel an Verbrauchsgütern sowie Rohstoffen, eine Inflationsrate von 55 Prozent und eine Arbeitslosigkeit von 22 Prozent zeigen das Ausmaß der Misere an.

Dazu kommt, daß auch die Beziehungen zwischen den Parteien und die Demokratie innerhalb der Parteien nicht eben weit entwickelt sind.

Regierungschef Bülent Ecevit, Chef der Volkspartei, und Oppositionsführer Süleyman Demirel, Chef der Gerechtigkeitspartei, verhalten sich selbst in der gegenwärtigen Krisensituation eher wie politische Kampfhähne denn wie parteipolitische Gegner. Fortwährende Abspaltungen in den einzelnen Parteien signalisieren nicht gerade innerparteilichen Zusammenhalt und erschweren das Regieren des Landes.

Die türkische Misere hat denn auch bei den westlichen Bündnispartnern Alarm ausgelöst. Denn wenn die westlichen Staaten ihrem NATO-Partner am Bosporus finanziell nicht unter die Arme greifen, besteht die Gefahr, daß sich Ankara vollends den Nachbarn der Region zuwendet -also der Sowjetunion und den arabischen Ländern.

Allein das amerikanische Verhalten während der Iran-Krise hat sich tief im türkischen Denken niedergeschlagen. Denn das Erstarken des Islam zur politischen Kraft, die Betonung der nationalen Unabhängigkeit und die Lösung aus Bündnissystemen im Gefolge des Umsturzes in Teheran, sind in der Türkei nicht ohne Echo geblieben und haben ein Uberdenken des Verhältnisses zur westlichen Führungsmacht bewirkt.

Für das westliche Lager gilt es jetzt, der türkischen Wirtschaft bei ihrem Weg aus dem Chaos beizustehen, schon um die krisenerschütterte Demokratie wieder auf feste Fundamente zu stellen. Schließlich hängt davon die Loyalität Ankaras zum Westen ab. Der Internationale Währungsfond wird bei seinen Verhandlungen mit der Türkei also auch politische Motive in sein Uberlegen einbeziehen müssen.

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