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Alarmzeichen

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Vor siebzig Jahren, am 4. Juni 1920, unterzeichnete Ungarn als Rechts- nachfolger der Donaumonarchie den Frieden von Trianon. Enorme Gebiets- verluste waren die Folge. Trianon blieb bis heute ein Stachel im Fleisch jedes Magyaren. Grenzrevisionen sind je- doch nicht der Weg ins neue Europa.

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Vor siebzig Jahren, am 4. Juni 1920, unterzeichnete Ungarn als Rechts- nachfolger der Donaumonarchie den Frieden von Trianon. Enorme Gebiets- verluste waren die Folge. Trianon blieb bis heute ein Stachel im Fleisch jedes Magyaren. Grenzrevisionen sind je- doch nicht der Weg ins neue Europa.

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Der Friedensvertrag von Trianon bedeutet für die Völ- ker des Donaubeckens nach wie vor eines der Traumata, die zu ver- arbeiten die Hoffnungen äußerst gering sind. Die Folgen dieses Ver- trages sind heute wieder einmal sichtbar geworden: Vom Joch der Diktatoren befreit, feiert die Dummheit als Nationalismus wie- der eine Sternstunde. Zu ihren Argumenten gehören nach wie vor Knüppel, von Zeit zu Zeit mit Sen- sen und Messern ergänzt.

Auch Schreie von aufgehetzten Massen, die eine Volksgruppe wie- der in die Donau treiben wollen, sollten nicht überhört oder als Kin- derkrankheit einer jungen Demo- kratie abgetan werden, insbeson- dere wenn das Land, wo dies unter polizeilicher Aufsicht geschieht, fortwährend so stolz auf seine tief- wurzelnden demokratischen Tra- ditionen ist, die - soweit wirklich vorhanden - restlos (und das wird auch heute noch verschwiegen) aus der nach wie vor mit Verachtung bedachten k.u.k.-Zeit stammen.

Die wirklichen Demokraten aus diesen Ländern - Ungarn, Rumä- nien, Slowakei - sind aber heute dringender denn je aufgefordert, das Trianon-Trauma zu bewälti- gen oder zumindest den Versuch dazu zu unternehmen. Doch dies stößt gleich zu Beginn auf Schwie- rigkeiten, die unüberwindlich scheinen. Die Ausgangspositionen sind auf allen Seiten mehrfach vor- belastet. Die Ungarn kommen von der undankbaren und verlegenen Rolle als Opfer nicht weg. Die Lage, die der Vertrag vom 4. Juni 1920ge- schaffen hat, würde sie zu dieser Sichtweise sicherlich berechtigen.

Vor dem Ersten Weltkrieg hatte ihr Königreich mehr als 21 Mil- lionen Seelen gezählt; davon blie- ben damals 7,615.000 übrig. Das schlimmste war der Verlust von 3,3 Millionen Magyaren an die Nach- barländer. Das 282.000 Quadratki- lometer große Gebiet schrumpfte auf 93.000 zusammen. Rumänien erhielt vom ungarischen Territori- um 31,7 Prozent, die Tschechoslo- wakei 19,1, der südslawische Staat 19,4 und Österreich 1,2 Prozent.

Nicht nur tausend Jahre des „historischen Ungarn" waren zu Ende - mit der Monarchie zerbrach auch eine funktionsfähige Einheit von Wirtschaft und Verwaltung. Von hier aus führte der Weg schnur- stracks zur Erstarkung jener Na- tionalismen, die das Gesamtreich in seiner Integrität stets zu subli- mieren verstanden hatte; mit dem Ergebnis, daß in keinem der neuen Länder der Prozeß der Modernisie- rung durchgesetzt werden konnte.

Möchtegern-Königreiche, die sich im Handumdrehen in Diktaturen verwandelten, vom Nationalismus erwartetes Heil, Besetzung durch fremde Mächte oder „ Unabhängig- keit" mit Doppelkreuz im Zeichen des Hakenkreuzes folgten Trianon. Die Verliererin war stets die Demo- kratie. Und nicht nur in Ungarn.

Demokraten dürfte es heute nicht mehr schwer fallen, dies zu begrei- fen; denn sonst wäre die Chance, sich dem Partner - ob er Rumänien, Tschechoslowakei, Jugoslawien oder Österreich heißt - zu nähern, äußerst klein. Alleine schon des- halb, weil sich ernsthafte Denker beispielsweise in der Tschechoslo- wakei und in Rumänien stets Mühe machten, den Friedensvertrag von Trianon mit Belegen aus der Ge- schichte zu rechtfertigen.

Ereignisse oder gar nur Momente werden aus mehreren Jahrhunder- ten herausgegriffen und willkür- lich miteinander in Zusammmen- hang gebracht, sodaß Trianon den Nachfolgestaaten gegenüber sogar noch als ungerecht erscheint, bei all den Sünden, die die Magyaren tausend Jahre lang gegenüber den Nationalitäten in ihrem Macht- bereich begangen haben sollen. Da ist es nicht mehr weit zu solchen Wahnideen wie „historische Not- wendigkeit" oder „Gerechtigkeit der Geschichte", die mit Wissen- schaft und Geschichte selbst herz- lich wenig, mit Ideologie aber umso mehr zu tun haben.

Eingefleischte Nichtmarxisten machen sich da plötzlich die Ter- minologie des gescheiterten Welt- veränderers und seiner Verdreher zu eigen und leiten von der „histo- rischen Gerechtigkeit" moralische und freilich auch gleich territoriale Ansprüche ab. Diesen beschämen- den osteuropäischen Irrsinn könn- te man auch noch als Untergang des Verstandes bezeichnen, wenn es dabei nicht die Massenanfällig- keit für die Seuche des Nationalis- mus gäbe. Da gehen Scharen slo- wakischer Katholiken - die vorge- stern in Untergrundgottesdiensten mit ihren magyarischen Mitbrüdern gemeinsam gebetet haben - auf einmal unter priesterlichem Geleit für die „rein slowakische Erde" auf die Straße. Und Vaclav Havel, der Schriftstellerpräsident der Repu- blik, jahrelang ein ungebrochener Kämpfer für die Bürgerrechte, räumt in aller Öffentlichkeit ein, als Staatsoberhaupt doch etwas anders denken zu müssen denn als „Privatmann"; im übrigen habe er als Tscheche östlich von Mähren wenig zu sagen.

Trianon als Ohnmacht und Un- fähigkeit. Man mache sich keine Illusionen; wohlklingende Sprüche über eine Annäherung - vor allem auf der Ebene des Geistes - bleiben in den Nachfolgestaaten höchstens ein Wunschtraum, solange Minder- heiten die Praxis des ansonsten verfassungsmäßig garantierten Rechtes, eigene Bildungsstätten einschließlich Hochschulen zu gründen, untersagt wird.

Die Demokratie wird da wieder einmal nur auf dem Papier weiter existieren. Nur wenige scheinen vom Sturz des Kommunismus und von den bolschewistischen Jahren gelernt zu haben; als die aus dem Staatsstreich hervorgegangene „neue" rumänische Führung vor kurzem die Einführung des Tra- gens des grünen Sterns für die Nationalitäten überlegte, traute die europäische Öffentlichkeit ihren Ohren nicht. Dank der wenigen, die gelernt hatten, war dieser Plan zu sqhnell bekannt geworden, sodaß ihn die verwaisten Ceausescu-Jün- ger ebenso rasch fallen lassen mußten. Europa konnte glauben, sich verhört zu haben. Alarmie- rendes Zeichen? Mehr als das. Schlangeneier eines neuen Fa- schismus auf dem verkrusteten Vertragswerk von Trianon.

Österreich als die älteste Demo- kratie unter den Nach-Trianon- Ländern könnte demnächst eine nicht zu unterschätzende, ver- mittelnd integrierende Rolle bei der Auflösung des Traumas spielen. Das Burgenland mit seinen Nationali- täten, darunter die - zugegeben recht wenigen - Ungarn, dient nicht nur als Bindeglied, sondern auch als Modell, ebenso wie die Grenze, die dieses Bundesland mit dem Nachbarn verbindet.

Die Intensivierung von Kontak- ten zwischen Parteien, Gemeinden, Medien - und Kirchen böte si- cherlich zahlreiche Möglichkeiten einer Erfahrung, die die neuen beziehungsweise werdenden Demo- kratien Mittel- und Osteuropas mehr als alles andere dringend nötig haben.

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