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Alberts Geheimnis

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Albert hatte ein neues Quartheft in seinem Pult, es hatte einen blauen Einband und vorne ein weißes Schildchen, worauf er etwas zu schreiben versucht war, es sich überlegte und fand, daß es besser sei, nichts darauf zu schreiben und das Heft im hintersten Winkel des Pultes, unter einem Stoß Bücher, zu verstecken. Es war eine nutzlose Geste, die ihn zwar beruhigte, doch den Zweifel nicht nahm, das Heft werde entdeckt; es gab kein anderes Versteck.

Er überspielte jedesmal den Verdacht, wenn er das Heft herausholte und wieder hineinschob, daß ihn ein Mitzögling oder sogar der Präf ekt vom Katheder aus beobachtete; das, was in dem Heft stand, ging nur ihn allein etwas an, er wollte es niemand zeigen und nahm an, daß jedermann respektierte, daß es nur ihn allein anging, was er in dieses Heft schrieb.

Er hatte nach der Begegnung mit dem Mädchen am Zaun zum erstenmal etwas in das Heft geschrieben, ein Gedicht, das nur aus ein paar Verszeilen bestand, die ihm, auf dem Weg von den Spielplätzen in das Gebäude, eingefallen waren. Diese paar Verszeilen hatten ihn überwältigt, das Erlebnis mußte sich in dieser Form ausdrücken, er las die Verse täglich mindestens einmal, wobei er sich des Wagnisses kaum bewußt war, das Heft hervorzuholen und es dann wieder sorgfältig unter die Bücher zu schieben. Später schrieb er eine kleine Geschichte, ein Kindheitserlebnis, zeichnete einen Traum auf, als Folge einer religiösen Übung auch ein Gebet, in dem er um Reinheit der Augen und Unverletzlichkeit der Ohren bat, und im letzten Absatz bezog sich die Bitte auf das Mädchen: Gott möge ihm den Eindruck so unversehrt bewahren.

Mehr und mehr verlor er den Verdacht, daß es jemand wagen sollte, das Heft aus dem Pult zu nehmen. Er war auch nicht neugierig, was andere taten, er sah die Mitzöglinge vor und neben sich, schenkte ihren Tätigkeiten aber keine Beachtung und hoffte, daß sie ihn auch nicht beachteten. Es gab keine andere Möglichkeit, zu dem unter den Büchern verborgenen Heft zu gelangen, als während des Studiums, wenn sich alle im Saal an ihren Pulten befanden, der Präfekt auf dem Podium an dem Katheder saß und im Brevier las, die Lippen leicht bewegte, ein Blatt wendete, wobei er das rote Band, das im Rücken des Breviers befestigt war, anhob und, nachdem er umgeblättert hatte, über die neue Seite legte. Dabei wandte er gerne den Kopf hin und her und ließ seine Blicke über die Zöglinge schweifen.

Albert fühlte den Blick, der nicht auf ihm ruhte, den er aber verdächtigte, daß er ihn erfaßte; eine geübte, doch verborgene Absicht lag in dem Blick, als sei er ständig hinter dem Bösen her, aus Gewohnheit, und bemüht, es aus der menschlichen Natur auszutreiben. Albert sah, wie der Blick zurückkehrte ins Brevier, um dort bis zur nächsten Abschweifung zu bleiben, die regelmäßig kam, auch wenn die Finger das rote Band nicht aus dem Brevier hoben; der Blick verurteilte ihn, auch wenn das Urteil nicht ausgesprochen war; einmal würde er Rede und Antwort stehen müssen wegen des blauen Quartheftes.

Doch daran dachte er nicht, nahm es heraus, las darin oder trug ein paar Zeilen ein und verbarg es wieder, und eines Tages hörte er es, ohne daß er danach gefragt hätte: die Präfekten hielten Pultkontrollen ab zu einer Zeit, da sie vor jeder Überraschung im Studiersaal sicher seien. Er hörte dies von einem Zögling der Maturaklasse, der ihm für Nachhilfestunden in Latein zugewiesen worden war.

Von dem jungen Mann ging für Albert etwas Neues aus: hier lebte ein Zögling im Internat, der, ohne daß ihn jemand daran hindern konnte, die Hausordnung zwar anerkannte, sie aber nicht einhielt. Er hatte vor, wie er sagte, Arzt zu werden, was er zum Anlaß nahm, die für Knabenseminaristen erstellte Ordnung herabzusetzen. Albert hörte ihm staunend zu, traute ihm aber nicht ganz; in seinen leichten Ausfällen schwang etwas mit, was sich wie Angeberei anhörte.

Sie trafen sich wöchentlich zweimal für eine Stunde, die sich verlängerte, weil der Ältere, der Albert die lateinischen Texte aus dem Übungsbuch lesen und übersetzen ließ, was sie beide nicht sehr wichtig nahmen, schon darauf wartete, einige seiner Abenteuer und Erlebnisse zum besten zu geben. So sagte er zum Beispiel, daß er, wenn er Ausgang habe, eine Bekannte besuchte, sagte nicht Freundin oder Mädchen, sprach davon gern in Andeutungen und Umschreibungen, sagte auch, daß er in diesem oder jenem Kaffeehaus verkehre oder, um sich die Zeit zu vertreiben, durch die Straßen der Stadt flaniere, nicht ohne die Absicht, von einem der Lehrer, die sich gerne in der Stadt und in den Kaffeehäusern aufhielten, gesehen zu werden.

Täglich am Morgen, wenn sie aus der Hauskapelle in den Studiersaal kamen, hob Albert den Pultdeckel wie die anderen, richtete die Bücher und Hefte für den täglichen Unterricht, doch sein erster Blick galt unauffällig dem Quartheft unter den Büchern. Er sah die Bücher genau an, ehe er das Heft herauszog, beachtete deren Lage, und später kam er auf den Gedanken, den Büchern, die auf dem Heft lagen, eine besondere Anordnung zu geben, an jedem Abend kleine Veränderungen an dieser Stellung vorzunehmen und jeden Morgen die Stellung zu prüfen. Lange Zeit entdeckte er keine Veränderungen.

Er wußte nicht genau, warum er die Veränderungen gerade am Morgen erwartete, der Präfekt konnte die Pulte auch während des Unterrichts durchsuchen, doch er fand die Veränderung dann an einem Morgen, die Bücher waren weder umgestoßen, noch lagen sie in einer anderen Reihenfolge, waren nur verschoben, die Ecken hatten zueinander eine andere Richtung, Albert erinnerte sich genau, wie er die Bücher am Vorabend angeordnet hatte, schloß den Pultdeckel, ohne die Bücher und Hefte für den Unterricht entnommen zu haben, und sah zum Präfekten am Katheder. Der beachtete ihn nicht. Ein Nachbar blickte Albert zweifelnd an, und dieser hob den Pultdeckel, holte ein Buch heraus, stützte den Kopf in die Hände, las aber nicht; jetzt wurde ihm deutlich, daß sein Pult geöffnet, das Heft gefunden und darin gelesen wurde, die Gedichte, Geschichten und Träume, die man nicht verstehen, sondern nur mißverstehen würde. Er hatte ein schlechtes Gewissen; es gab nichts, was nicht mißverstanden werden konnte.

Noch hatte er sich nicht davon überzeugt, ob das Heft unter den Büchern lag. Er hatte Angst davor, sein Fehlen festzustellen. Nach einer Weile hob er den Pultdeckel, rückte die Bücher beiseite; das Heft war da, er schob die Bücher wieder darüber. Zweifel und Gewißheit wechselten einander ab; täuschte er sich oder erinnerte er sich genau? Je mehr er dem Zweifel verfiel, umso gewisser wurde ihm, daß er sich täuschte. Andererseits ärgerte er sich über die Gewißheit. Wollte er entschuldigen, daß sein Pult untersucht worden war? Hatte man sich bemüht, den Inhalt nicht in Unordnung zu bringen? Er hatte mit dem Zweifel zu leben, niemand als der Präfekt konnte ihm Gewißheit geben, wenn er zu ihm trat, seinen Arm berührte und sagte, er solle mitkommen. Albert wartete darauf.

Doch der Präfekt kam nicht. Albert beobachtete ihn genau, er wollte erfahren, ob es Teuschl merken ließ, daß er von dem Quartheft wußte oder seinen Inhalt kannte. Der ließ sich nichts anmerken. Albert gewann im Laufe seiner Beobachtungen den Eindruck, daß sich am Benehmen und Verhalten des Präfekten nichts geändert hatte, er war der Behauptung seines Nachhilfelehrers aufgesessen, der sich zu wichtig nahm, er selbst nahm vielleicht sein Quartheft zu wichtig, und er war soweit gegangen, seinem Mitzögling und Freund Anton davon zu erzählen. Nicht so, als vertraue er ihm ein Geheimnis an; er machte ihm die Mitteilung, daß er für sich ein Heft führe, worin er verschiedenes eintrage, ein Tagebuch also, sagte Anton, und Albert nickte.

Sie gingen beide auf dem Spielplatz am Zaun auf und ab, Albert beobachtete den lebenden Zaun draußen und dachte an das Mädchen, sagte aber nichts; ihn beschäftigte nicht so sehr das Ereignis als das Gefühl für den Vorgang, der das Ereignis in das Gedicht umgesetzt hatte. Und dafür fand er jetzt nicht die Worte. Ein Tagebuch, sagte Anton, führe seine Mutter auch, sie habe es ihm schon einmal zum Lesen gegeben. Tagebücher gebe man anderen nicht zum Lesen, sagte Albert. Er meine damit wohl sein Tagebuch, sagte Anton, wem solle er es hier zum Lesen geben. Teuschl, sagte Albert spöttisch, doch es klang ernst. Der hole es sich aus dem Pult, wenn er neugierig sei, sagte Anton. Ob er auch meine, daß Teuschl die Pulte durchsuche? -Natürlich, das sei doch bekannt.

Albert verspürte immer eine unerklärliche Unruhe, wenn er mit Anton, am Zaun auf und ab gehend, sprach. Jedes Gespräch trug den Keim schonungsloser Aufrichtigkeit in sich, die zwar guttat, doch hier ungewöhnlich war, denn jedermann verschwieg etwas, hielt mit seinem Gefühl hinterm Berg.

Franz Rieger neuer Roman,,Internat in L.“ wird demnächst im Verlag Styria, Graz, erscheinen.

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