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„Alle Anzeichen einer multiplen Sklerose“

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Das Flugfeld unter uns schien beängstigend klein. Auf dieser Landebahn war vor achtzehn Monaten, am 10. Jänner 1972, eine Riesenmaschine der britischen Luftwaffe aus London gelandet mit Scheich Mujibur Rahman als Passagier. Über diesem Flugfeld weht nunmehr seit dem 16. Jänner 1971 die neue Fahne eines neuen Staates: Bangladesch. Bangladesch, das bis zum 16. Dezember 1970 Ostpakistan war. Als der Scheich in Dakka landete, kontrollierten indische. Soldaten den Flughafen, die Stadt, das Land als Befreier und als Sieger.

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Das Flugfeld unter uns schien beängstigend klein. Auf dieser Landebahn war vor achtzehn Monaten, am 10. Jänner 1972, eine Riesenmaschine der britischen Luftwaffe aus London gelandet mit Scheich Mujibur Rahman als Passagier. Über diesem Flugfeld weht nunmehr seit dem 16. Jänner 1971 die neue Fahne eines neuen Staates: Bangladesch. Bangladesch, das bis zum 16. Dezember 1970 Ostpakistan war. Als der Scheich in Dakka landete, kontrollierten indische. Soldaten den Flughafen, die Stadt, das Land als Befreier und als Sieger.

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Der Scheich war über einen längeren Umweg nach Dakka zurückgekommen. Er wurde von Bhutto, dem Präsidenten von Rumpf-Pakistan, nach der Niederlage der pakistanischen Armee aus der Gefangenschaft entlassen. Da noch Kriegszustand herrschte, mußte der Scheich nach London. Von dort flog er in einer „Comet“ der britischen Luftwaffe seiner befreiten Heimat zu. Bei der Zwischenlandung in Neu-Delhi wollte die indische Regierung Mujibur Rahman zum Umsteigen aus der englischen in eine indische Maschine bewegen, der Flugplatz in Dakka sei zu klein für die Riesenmaschine der Royal Air Force. Der Mann, der wußte, daß er zur Führung seines durch Flut, Kriegszustand und Krieg zerstören Staates berufen war, schlug alle Warnungen und Wünsche der Inder in den Wind. Das war ein kalkuliertes Risiko und ein politisches Programm.

Als ich achtzehn Monate später mit einer Maschine der Bangla Desh Airlines in Dakka landete, gab es keine indischen Soldaten mehr und keine indische Kontrolle. Die brüske Weigerung der Bank am Flugplatz, meine indischen Rupien in Bangladesch-Rupien zu wechseln, ließ auf ein Umschlagen der Stimmung schließen. Die freilich gehörte nicht in das politische Programm des Scheich

„Bangabandhu“, Vater des bengalischen Vaterlandes, wird der Scheich fast schon offiziell genannt. Als Ministerpräsident von Bangladesch wurde er in einer Wahl überwältigend bestätigt. Gegen die Ubermacht der indischen Befreier und der sowjetischen Freunde in der Not von 1971 — und gegen alle neuen Freunde — verteidigt Bangabandhu heute noch sein-Programm vom 10. Jänner 1972. Die Verteidigung ist viel schwerer geworden. Von den gierigen Mittelstandspolitikern ist er längst isoliert, von der Masse wird er noch als Bangabandhu verehrt: Restbestand und Symbol eines Augenblicks der Hoffnung, von dem sonst nichts geblieben ist.

Den beiden Krankheiten des Landes steht der Scheich hilflos gegenüber. Die eine: Verantwortungslosigkeit, Dilettantismus und Korruption — sie ist mit den „Revolutionspolitikern“ aus der indischen Emigration von 1971 über das Land gekommen. Die andere: Passivität — sie vernichtet die Lebenskraft des Landes. „Alle Anzeichen einer multiplen Sklerose“ diagnostizierte ein Arzt, der zu den wenigen echten Bengalipatrioten von 1971 gehörte. „Die Lähmung greift immer weiter um sich. Nur das gesunde Herz, Mujibur allein, könnte den erkrankten Körper aus dem Siechtum holen.“

Aber selbst das gesündeste Herz hat es schwer, den geschwächten Körper gegen fremde Eingriffe und Bevormundungen zu verteidigen. Und der Körper wird immer schwächer. Das Durchschnittseinkommen ist heute ebenso hoch wie 1971: 552 Taka (Bangladesch-Rupien), das sind 75 Dollar jährlich, die Preise stiegen jedoch in der gleichen Zeitspanne bis zu 400 Prozent und steigen weiter. Ein erfinderischer Mittelstand (fünf Prozent) hat die nationale Befreiung in eine Befreiung von allen Begrenzungen der Bereicherung umgemünzt. Für jeden dieser fünf Prozent bedeutet das gleichgebliebene Durchschnittseinkommen ein vervielfachtes persönliches Einkommen. Für die 95 Prozent bedeutet es eine Vertiefung der Verelendung. Die Inflation aus dem Zusammenbruch jeglicher Produktion und dem Umleiten von zumindest sechzig Prozent aller Waren und neunzig Prozent aller Importe auf einen offen tolerierten schwarzen Markt, hat aus dem befreiten Staat das Paradies der Spekulanten und Schieber, das Notstandsgebiet der Produzierenden gemacht. Bangabandhu verbraucht seine Kraft, das Land vor dem Zugriff der Nachbarn und der Großmächte zu verteidigen. Die Bürger des Landes sind den Ministern, den Bürokraten, den Planern, den Be-freiungsprofitierern überlassen. Sie zahlen den Preis.

Der Flugplatz, auf dem wir gelandet waren, ist armselig, wie vor achtzehn Monaten. Die Ruinen aus dem Krieg sind unberührt — verfallende Wahrzeichen. Die fünf Fokker der Bangla Desh Airlines sind in ihrem ständigen An- und Abfliegen der einzige Lichtblick meiner Wiederkehr, Geschenke Australiens, Hollands und der Bundesrepublik. Die rastlosen Fokker ersetzen einen guten Teil des Bahntransportes. Loks und Zugsgarnituren werden seltener gespendet als Flugzeuge, gesprengte Brücken nie. Für die Strecke zwischen Dakka und Chittagong, 320 Kilometer, braucht der Zug neunzehn Stunden. Die Zugbrücke über den Fluß Bharaib ist gesprengt: Brückenbau im Verlauf des nächsten Fünf jahresplanes, heißt es.

Wie auf dem Flugplatz sind auch auf der Strecke zum Hotel Purbani die Straßen mit Wahrzeichen des Befreiungskrieges gespickt. Alles ist im Zustand des Dezembers 1971 geblieben. Die Straßen, über die Panzer gerollt sind, die Häuser mit den vielen Einschußstellen, die geschleiften Mauern der Villen reicher Westpaki-stani. In der Villa selbst sitzt meistens ein bengalischer „Freiheitskämpfer“. Dient er dem befreiten Land als Bürokrat, steht ein Posten vor dem Tor, dient er ihm als Geschäftsmann, ein Wagen, für den sonst ein Importverbot herrscht. Der Zerfall ist der Preis, den Dakka für die Befreiung von den blutrünstigen pakistanischen Generalen zahlen muß. Dieser Preis ist jeden Tag gegenwärtig, die Blutrünstigkeit der Generale hingegen versinkt überraschend schnell in Vergessenheit. Straßen und Häuser sind seit den Tagen der Kämpfe unverändert geblieben, verändert haben sich nur die Menschen. An ihren Gesichtszügen, an ihren Bewegungen erkennt man, wie sehr sie von der Sinnlosigkeit jeglicher Aktivität überzeugt sind. Die Stadt, seit Dezember 1971 von einer Million Menschen auf zweieinhalb angeschwollen, ist übervölkert dem ceylonesischen gemischt wird, können sie Tauschware liefern. Darüber hinaus wird die Osthilfe immer schwindsüchtiger, besondes, da man sich über den Scheich keine Illusionen macht: Noch unnachgiebiger als sein Wirtschaftsminister gegenüber den finanziellen Forderungen der neunzehn Staaten ist Mujibur Rahman gegenüber allen politischen und besonders gegenüber den militärischen Forderungen des Ostblocks.

Der Preis der Freiheit war hoch. Der Aderlaß durch das Wüten der Pakistani und den Dilettantismus und die Korruption der aus Kalkutta heimgekehrten Emigrationspolitiker war lähmend. Noch höher • ist der Preis, den das Land für Mujiburs Entschlossenheit, die Unabhängigkeit zu verteidigen, zu zahlen hat. Wie lang können sich der Scheich und die Unabhängigkeit halten, wenn es an allem anderen gebricht, wenn es sonst nichts gibt? Schon beginnt sich aus der Passivität ein Stimmungsumschwung abzuzeichnen. Der Befreierstaat Indien wird Haßobjekt. Der Haß verschiebt sich langsam von den orthodoxen, Urdu sprechenden Biharis, die Westpakistans Fünfte Kolonne und Häscherschar in Ostpakistan waren, auf die Hindus in Bangladesch. Sie werden mit Indien identifiziert. Feiert man mit der Gründung von Bangladesch die Uberwindung des Hasses zwischen Muslim-Ost- und Hindu-Westbengalen, schleicht sich jetzt der Religionshaß mit der Enttäuschung über die Folgen der Befreiung wieder ein. Die mohammedanischen Ostbengalen in Bangladesch erinnern sich wieder genausogut der Muslim-Hatz im indischen Westbengalen nach der Teilung des Subkontinents im Jahre 1947, wie der pakistanischen Morde an mohammedanischen Ostbengalen vor der Teilung Pakistans im Dezember 1971.

blizieren. Voraussetzung: zwei aufeinanderfolgende Jahre mit barmherzigen Monsunen.

Wenige können sich erinnern, daß die Monsune es zweimal hintereinander gut meinten. Selbst im Glücksfall ist der Plan Illusion — in einem Land der demoralisierten Dörfer, der verfallenden Embryonalindustrie, der Importsperren, die auch landwirtschaftliche Geräte und Saatgut umfassen. In Bangladesch, das hörl man im ersten Gespräch mit den Männern des Planungsministeriums, sind, wie auf dem ganzen Subkontinent, große Pläne der Ersatz für die Lösung der Alltagsprobleme.

Die Stagnation in der Juteindustrie und der Rückfall des Transportes in Transportbedingungen des 19. Jahrhunderts stehen in Wechselwirkung mit dem Dilettantismus der neuen Politiker und Planer und mit einer gewissen Unverschämtheit, die indische Technik sein könnte: Auslandshilfe kommt von allen Seiten, Wasser rinnt in hohle Gefäße. Doch die Lust zu helfen ist gedämpft, seit im Februar dieses Jahres bei einer Konferenz von neunzehn Gläubigerstaaten Pakistans in Dakka die Regierung von Bangladesch jede Nach-folgeverpflichtung für pakistanische Schulden, auch wenn sie für Investitionen in Bangladesch — damals Ostpakistan — gemacht wurden, ablehnte. „Pakistan unterschrieb die Verträge“, sagt die Regierung. Und die Entgegnung der Gläubiger: „Mit den geborgten Geldern wurden Jutemühlen in Ostpakistan modernisiert, Kraftwerke gebaut, die heute Bangladeschs Eigentum sind.“

„Das mag stimmen“, gestanden die Vertreter von Bangladesch zu, „doch Pakistans Unterschrift ist unter den Verträgen, wir zahlen nicht. Und wir lehnen unter allen Umständen ab, daß die Bezahlung eines Kraftwerkes auf Bangladesch-Territorium als eine Bedingung für weitere Kredite gestellt wird.“ Die Konferenz flog auf. Weitere Hilfe wird von anderen Seiten gegeben — wo zeigt sich das Resultat?

Selbst die Staaten des europäischen Ostblocks haben es langsam aufgegeben, den Westen auszustechen. Sie nahmen an der Konferenz der Gläubiger im Februar nicht teil und denunzierten die Teilnehmer als Neoimperialisten: „Typisch westliche Hilfe unter politischen und finanziellen Bedingungen!“

Doch auch sie scheinen den Preis langsam für zu hoch zu halten. Als Großeinkäufer des Bangladesch-Tees, der für den Westen zu arm an Aroma ist, seit er nicht mehr mit dreißig Prozent ihrer Erzeugung einstellen müssen. Jetzt haben sie Bangladesch bereits überholt und <aufen bei Bangladesch-Bauern gegen Austauschware, die meistens auf lern schwarzen Markt landet, Rohjute auf, die sonst verrotten müßte.

80 Millionen leben auf 80.000 Quadratkilometern, 1000 Menschen sind juf einem Kilometer zusammengepfercht, von ihnen sind heute bestenfalls 500 | vollbeschäftigt. Von 1000 Universitätsabsolventen finden 100 entsprechende Arbeit, 400 Arbeit überhaupt. Das Bevölkerungswachstum ist eines der höchsten der Welt: 3,7 Prozent. Der Islam sieht auch in Bangladesch die Geburtenkontrolle als Verbrechen gegen den Willen Allahs an, in Wirklichkeit als Schwächung seiner Chancen, die Islamterritorien und Regionen sicher in Händen zu halten. Die staatlichen Spitäler sind mit Ärzten bestens versorgt, doch es fehlt an Medikamenten.

Ein Prozent der Bevölkerung sind Industriearbeiter, ein Viertel davon arbeitslos. Dafür gibt es keinen Mangel an Arbeitsplätzen und gewinnbringender Beschäftigung für Sechs-bis Vierzehnjährige. Nur fünfzehn Prozent aller Kinder besuchen die Elementarschule. .

Im ganzen Land Bangladesch ist die Fähigkeit zu hassen größer geworden: Moslems hassen Hindus wie in klassischen Zeiten, Bengalen-Moslems hassen Bihari-Moslems als Brotverzehrer, die längst unter dem Boden sein sollten, oder dn Pakistan. Nur im Ring der Slums verlieren sich die Grenzen, die von der Tradition des Hasses gezogen worden sind: das Elend schweißt die Menschen zusammen.

Vom Flugzeug aus sah man es: das Land steht im tiefen Grün der Tage nach den ersten Regenfällen und ist von Wasseradern durchzogen. Es muß ein guter Monsun gewesen sein.

Wo das Wasser über den Feldern steht, bedeckt er sicher die jungen Reispflanzen. Die Zeitungsmeldungen in Indien über eine Preissteigerung in Bangladesch als Folge von Lebensmittelknappheit waren zweifellos eine Ablenkung vom eigenen Mangel an Nahrungsmitteln. Und auch die Meldung in der bengalischen „People“ über eine nepalesische Spende von tausenden Tonnen Reis für Dakka erscheint unsinnig. In Dakka erkenne ich: die Inder haben diesmal nicht gelogen.

Der Vergleich von Preisen mit Notizen, die ich im Jänner 1972 machte, verriet: Preissteigerungen von hundert bds vierhundert Prozent. Auch die Meldung über die Nahrungsmittelknappheit stimmt. Der Monsun hat hier, im Osten dieses unglückseligen Subkontinents, zü früh und im Überschuß gespendet, was er dem Westen zu lange Zeit vorenthielt. Die Felder sind überflutet und fünfundzwanzig Prozent der Ernte gingen schon in den ersten Tagen des Monsuns verloren. Trotzdem hatte die Regierung den Mut, einen neuen Zweijahresplan zur Selbsternährung des Staates zu puvie Kalkutta. Die Straßen sind von nehr als 20.000 Fahrradrikschas mit rerrosteten Rädern und bunten Pa-&#187;ierblumen ständig verstopft. Von len 5500 Autobussen im ganzen Land unktionieren nur 450. In den Dör-ern haben die meisten der zehn Mil-ionen Rückkehrer aus den Flücht-ingslagern in Indien die Arbeit auf len Feldern bald nach ihrer Heim-:ehr aufgegeben. Das Lagerleben hat ie demoralisiert, die Desillusionie-ung in der Heimat noch mehr. Sie iedeln in den Slums um die Groß-tädte und verbinden sich mit den ugendlichen „Mukti-Bahini“, den Freiheitskämpfern, zu Banden, die wischen kriminellem und politi-chem Einsatz keinen großen Unter-chied machen.

Die 72 Jutemühlen der westpaki-tanischen Jutebarone sind Banglaieschs Volkseigentum geworden. Die futeindustrie ist die Existenzgrund-age von Bangladesch. Unter den jrünen Fahnen des Landes produziert sie kaum sechzig Prozent ihrer 3roduktion von 1971.

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