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Alle meine Ausreden
Solange die Abrechnungen des vergangenen Jahres, eben der Inhalt des sperrigen Möbels, nicht zur Hand genommen und überprüft werden konnten, war ich fein heraus, bastelte fleißig an Potemkinschen Finanzdörfern, und seine zahlreichen Bäume verstellten mir obendrein den Blick auf einen beträchtlichen Wald von Schulden.
Solange die Abrechnungen des vergangenen Jahres, eben der Inhalt des sperrigen Möbels, nicht zur Hand genommen und überprüft werden konnten, war ich fein heraus, bastelte fleißig an Potemkinschen Finanzdörfern, und seine zahlreichen Bäume verstellten mir obendrein den Blick auf einen beträchtlichen Wald von Schulden.
Wochenlang war die rechte Schublade meines Schreibtisches nur mit größter Mühe zu öffnen. Ein Freund im Hause probierte vergeblich seine Kunst an ihr aus, und das Kommen eines Tischlers schien unausweichlich zu sein. Das hatte die Schublade offenbar gehört - von einem Tag zum anderen war sie willig und die Gewalt überflüssig. Erst jetzt, da die Lade nicht mehr, wie jene der Juden während ihrer Wanderzeit, im Halbdunkel Geheimnisse barg, sondern den gesamten Inhalt offenbarte, kam mir zum Bewußtsein, daß ich wieder einmal um eine A usrede ärmer geworden war.
Ich hatte das alles natürlich dunkel geahnt und mein Unterbewußtsein darum auch nicht aufgehellt, das eine Gewaltkur an der Lade längst für fällig hielt. Nun, im hellen Tageslicht, war die Ausrede dahin. Nicht mehr mein Schreibtisch, sondern ich, der Schreibtischtäter, war schuld. Im wahrsten Wortsinn: ich hatte Schulden gemacht.
Kaum aber war die erste Ausrede dahin, stellte sich die nächste ein. Sie war so einleuchtend, daß selbst meine Frau sie mir glaubte, eine glücklicherweise absolut nicht leichtgläubige Person. Es war gleich ein ganzes Bündel von Ausreden! Sie standen eng beisammen wie die geernteten Kornähren, stützten und ergänzten einander brüderlich, wenn der Wind der Kritik und der Regen der Ernüchterung sie bedrängte.
Die dickste Ähre schrie: Wechselkurs, Wechselkurs! In der Tat: Seit Jahren hatte die Deutsche Mark sich vom Schweizerfranken losgesagt und damit auch mich zunehmend im Stich gelassen. Als ich 1962 in die Schweiz übersiedelte, überragte die Mark den Franken gut und gern um 15 % -jetzt ist sie ebensoviele Prozent kleiner als der Franken. Insgesamt also: ein Schwund von 30 %, und die Schrumpfung hat immer noch kein Ende.
Über 80 % meines Einkommens aus Pension und Honoraren entstammen aber dem Heimatland der D-Mark. Während rings um mich herum die Menschen wachsenden Wohlstand klaglos verkraften, muß ich alle Mühe aufwenden, das vor etwa sieben Jahren erreichte Niveau durch verdoppelten Fleiß zu bewahren. Trotzdem, wie gesagt, ging es nicht ohne Schulden ab, die Schublade legt es offen zutage.
Die zweite Ausrede irti Ährenkranz mischte sich lauthals ein und rief: Gesundheit, Gesundheit! Sie meinte natürlich Krankheiten, war aber diskret genug, dies in den üblichen Wunsch bei leichten Verkühlungen zu kleiden. Ja, Gesundheit, an ihr hatte es genug Mangel gegeben.
An ihn hatte ich mich eigentlich fast schon gewöhnt; erst sein Fehlen machte mich argwöhnisch - zusammen mit der enorm und unheimlich stetig zunehmenden Ertaubung verhinderten Krankheiten in diesem verflossenen Jahrsiebt zahllose Vorhaben und grenzten die Erwerbs- und Ver
dienstmöglichkeiten gerade da ein, wo sie ausgeweitet werden sollten.
Ungeduldig wartete eine dritte Ähre darauf, daß ich ihr das Wort erteilte. Auch sie hätte ihr Stichwort längst parat: Politik, Politik! Dabei wiegte sich die Goldbraune, als spräche sie vom Sonnenschein. Ich verstand, was sie meinte: Der Wind der Zeit blies meiner politischen Berichterstattung, vornehmlich aus Osteuropa und immer von der Quelle, ins Gesicht.
Vor zehn Jahren noch rissen sich Zeitungen um ungeschminkte Berichte eines Menschen, der ohne ideologische Brille die östliche Hälfte Europas bereist. Dann gab man sich zuneh
mend entspannt und wollte sich von der Realität in diesem löblichen Vorhaben nicht mehr stören lassen.
Mittlerweile hatte ich mich aber auch zu Wort gemeldet und sagte etwa folgendes: Ihr holden Schwestern, es hat mir wohlgetan, euch zuzuhören! Zugegeben: die Gründe, welche ihr aufzähltet, sind respektabel und entlasten mich etwas, ohne daß damit freilich auch schon meiner Kasse Entlastung erteilt würde. Und das nun wirklich mit ganz gutem Grund, denn in allen drei von euch genannten Fällen hätte ich etwas unternehmen können, statt mich hinter Ausreden zu verschanzen!
Als die Tendenz Franken-DM einen Dauerzustand proklamierte, hätte ich nach Deutschland zurückziehen können. Als die beiden Peiniger
Krankheit und Behinderung mit vereinten Kräften auf mich losgingen, hätte ich jene Gelder, mit denen meine Neugier auf fremde Länder und Menschen gestillt wurde, für einen langen, gründlichen Sanatoriumsaufenthalt verwenden sollen.
Schließlich: Meine Lust am Schreiben konnte, bei etwas mehr aufgewandter Mühe, auch für Erzählungen oder Hörspiele nutzbringende Verwendung finden, statt daß ich sie bequemerweise mit dem ohnehin vorhandenen politischen Interesse kombinierte.
Das Fazit war also nicht eben sehr schmeichelhaft für mich, zumal es ganz offenbar nur die sichtbare Spitze eines Eisbergs von Ausrden darstellt, der mein Leben bislang angenehm temperierte. Schmolz wider Erwarten diese Spitze im Feuer sachlicher Argumente doch einmal dahin - dem Eisberg machte es nichts aus. Er gehört offenbar in den Umkreis des Menschen und macht sein Leben erträglicher.
Denn dieses unser Leben bietet sonst immer weniger Fluchtmöglichkeiten, welche nicht seine Substanz angreifen und obendrein auch keinen Mitmenschen einen Schaden zufügen. Keine Sucht hinterläßt ihre verheerenden Spuren, keine Lüge beschädigt Lügner und Belogenen.
Wir drücken uns nur, ein wenig feige, ein wenig spekulierend, vor der Verantwortung, wohl wissend, daß die Sache über kurz oder lang doch auf uns zukommt und dann keine faulen Ausreden mehr duldet.
Eben um Freiheit geht es. Die aber tut den Menschen, zumal in unseren so entsetzlich fleißigen Breiten, zu seinem körperlichen und seelischen Wohlbefinden unheimlich gut.
Ich werde mit Sicherheit auch während meiner restlichen Lebensjahre auf Ausreden nicht immer verzichten. Ich weiß nicht einmal, ob ich es überhaupt will. Ich weiß nur, daß ich morgen schon wieder flach im Bett liegen werde, auch wenn ich mir heute das sanfte Kopfkissen der Ausrede genehmige und sanfte Träume habe ...
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