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Alle Tiere sind gleich, manche sind gleicher

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„Roma locuta, causa finita.“ So ganz dürfte dieser Grundsatz nicht einmal mehr im innerkatholischen Bereich Geltung haben, und österreichische Sozialdemokraten wollen sicherlich nicht päpstlicher sein als der Papst. Nichts Schlimmeres könnte dem SPÖ-Grandsatzprogramm 1978 passieren, als daß es mit der Verabschiedung durch den Parteitag zur Schu-bladierung freigegeben wäre. Kreisky hat darum als Parteivorsitzender zu Recht nicht nur SPÖ-Mitglieder, sondern alle, die in unserer Konsumgesellschaft überhaupt noch an Grundsatzfragen interessiert sind, aufgefordert, das beschlossene Parteiprogramm der SPÖ nicht als Schlußwort, sondern als Anfangs wort zu verstehen.

Einer der Schlüsselbegriffe sozialdemokratischer Ideologie, der auch bei diesem Programm-Parteitag nur angerissen und nicht ausdiskutiert werden konnte, scheint mir das Prinzip der Gleichheit.

„Die Sozialisten treten unverrückbar für die Gleichheit als Ausdruck der Gleichwertigkeit aller Menschen ein. Sie ist die Voraussetzung für die freie Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit.“

Wenn man das liest und die programmatische Aussäge mit der Wirklichkeit vergleicht, denkt man unwillkürlich an den berühmten Satz aus der Fabel von der Republik der Tiere, in dem es heißt, alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher. Leider ist das nicht nur ein Märchenbild, sondern wird uns von nicht wenigen Zeitgenossen jeden Tag vorgelegt.

Wer hat heute wohl Lust oder auch die Zivilcourage, darüber nachzudenken, öffentlich oder ganz insgeheim, wie sehr diese gesellschaftliche Reali-

tät im Widerspruch zum Geist unserer Verfassung und erst recht im Gegensatz zu linken oder rechten Grundsatzprogrammen steht?

Gleichgültig, ob wir von chrisüich-sozialen, liberalen oder sozialdemokratischen Überlegungen ausgehen, ist das Prinzip Gleichheit untrennbar mit unserem Demokratieverständnis verbunden. Alle Menschen sind vor dem Gessetz gleich. Nicht zufällig wurden alle Vorrechte der Abstammung, der Religion oder des Berufes mit der Ausrufung der demokratischen Republik beseitigt.

Das jahrzehntelange Ringen um Gleichberechtigung, Privüegienab-bau, Förderung der Unterprivüegier-ten, sollte doch einen gesellschaftlichen Zustand herbeigeführt haben, der das oft zitierte Unbehagen in der Demokratie wenigstens auf diesem Gebiet als hinfällig erscheinen lassen müßte. Mit Bert Brecht wird der kritische Beobachter leider darauf antworten müssen: Denn die Verhältnisse, sie sind nicht so. Bitter meinte ein großer französischer Denker und Schriftsteller unseres Jahrhunderts, Arme und Reiche hätten das gleiche Recht, unter der Brücke zu schlafen. Robert Michels schrieb bereits 1911 sein klassisches Werk zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, in welchem er in allen Parteien die Tendenz zur Oligarchie, zur Herrschaft der Wenigen, feststellte. Das Buch ist immer noch lesenswert.

Man braucht aber gar nicht bei Dichtern, Denkern, Soziologen und Politikwissenschaftern nachzulesen, wenn man feststellen will, wie weit es heute noch Privüegierte und weniger Privilegierte, Mächtige und Ohnmächtige, Establishment und Außenseiter, Randschichten, Habenichtse gibt.

Als erstes eine Feststellung, die viele immer wieder empört aufschreien läßt, auch wenn damit einfach eine Tatsache ohne jegliches Werturteü ausgesprochen wird: Wir leben auch im Westen nach wie vor in einer Klassengesellschaft Ich bitte zu entschuldigen, wenn ich infolge der völlig anderen

Problemstellung die Klassengesellschaft in den kommunistischen Diktaturen außer Betracht lasse. Ein Altkommunist wie Djüas gibt darüber besser Auskunft, als ich es je könnte.

Ich möchte nur kein Beifallsgemurmel von einer Seite, die vorschwindelt, sie hätte die klassenlose Gesellschaft verwirklicht, und in Wirklichkeit hat man Privüegien für die Machthaber durchgesetzt wie in kaum einem kapitalistischen Land.

Natürlich bedeutet bei uns Klassenkampf heute etwas anderes als vor 50 Jahren. Es ist etwa in Österreich nicht mehr ein Kampf auf Leben und Tod, sondern es geht um Leben und Lebenlassen. Das heißt pluralistische Gesellschaft. Die Auseinandersetzungen spielen sich erfreulicherweise auch nicht mehr auf Barrikaden, sondern am Verhandlungstisch ab. Aber diese positive Entwicklung der Integration der Arbeitnehmer in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß es immer noch Besitzende und Nichtbesitzende gibt,' der eine ein unselbständig Erwerbstätiger, der vom Verkauf seiner Arbeitskraft leben muß, und der andere auf Grund seines Eigentums an Produktionsmitteln Macht ausüben kann.

Es geht aber nicht nur um ökonomische Ungleichheit, auch wenn für den Arbeitnehmer gerade die Einkommens- und Vermögensgerechtigkeit das zentrale Problem darstellen. Andere Privüegien, die im kulturellen oder auch sozialpsychologischen Bereich sehr stark unser Bewußtsein prägen, sind viel schwerer faßbar und damit schwerer aufhebbar. Ein Bestseller des vergangenen Jahres, geschrieben von einem der führenden, Sozialpsychologen im deutschsprachigen Raum, trägt den bezeichnenden Titel „Lemziel Solidarität“.

Soll Solidarität mehr sein als der Titel einer Gewerkschaftszeitung, müssen wir alle miteinander noch sehr viel in unserer Einstellung zum Mitmenschen lernen. Als erstes gilt es zum Beispiel zu lernen, nicht immer sich selbst als den Nabel der Welt zu betrachten. Allzu oft ist an die Stelle der Solidarität der Egoismus getreten. Jeder ist sich selbst der Nächste. Soüda-rische Einkommenspolitik wird immer wieder gefordert. Die Stärkeren sollen die . Schwächeren mitziehen, Einkommensunterschiede dürfen nicht zu groß werden. Die Praxis schaut eher umgekehrt aus.

Wo Tauben sind, fliegen Tauben zu, wo nichts ist, wird auch nichts.

Jenseits des Bereiches der Wirtschaft sind zu viele Zeitgenossen überzeugt, nur sie und der liebe Gott schupfen den Laden. Das egozentrische Weltbüd geht von der Leitvorstellung aus, möglichst alles auf das eigene Ich zu konzentrieren, nicht nur Geld, sondern Vorteüe jeglicher Art, zum Beispiel auch Information oder Entscheidungsgewalt.

Das Gegenprogram'm, was man anders machen könnte, hat vor Jahren einmal ein ÖGB-Arbeitskreis unter

dem Motto „menschliche Beziehungen im Betrieb“ zu formulieren versucht. Was vor rund 20 Jahren Wissenschafter und Praktiker in diesem Kreis feststellten, gut meines Erachtens heute genauso und ist eine entscheidende Voraussetzung für den Privüe-gienabbau in der Gesellschaftspyramide.

Wirtschaft und Gesellschaft haben insbesondere zwei Grundanliegen der Menschen Rechnung zu tragen. Jeder Mensch strebt nach Geltung und Anerkennung. Die Nichtachtung eines Menschen, die Herabsetzung seiner Person und seiner Leistung muß zu Spannungen und Konflikten führen, weü durch eine solche Geringschätzung sein Selbstw%rtgefühl verletzt wird.

Das zweite Grundanliegen des Menschen ist das Streben nach Sicherheit. Eine wichtige Voraussetzung, dem Menschen das Gefühl der Sicherheit zu geben, ist das Wissen um die Rolle, die er in der Gemeinschaft spielt, die genaue Vorstellung, worin seine besondere Tätigkeit besteht, und wie sie sich zu anderen Tätigkeiten verhält

Die Forderung nach Einführung psychologisch richtiger Grundsätze der Menschenbehandlung soll nicht dazu führen, den Mitmenschen zu einem Versuchskaninchen für psychologische Experimente zu machen, sondern soll einzig und allein neben dem Recht auf Arbeit, neben dem Recht auf entsprechende Bezahlung auch das Recht auf eine menschenwürdige Behandlung sichern. Privilegienabbau in der Arbeitswelt soll beitragen, die Arbeit zu vermenschlichen, das Los der arbeitenden Menschen hinsichtlich der physischen und nervlichen Belastung, die der moderne Arbeitsprozeß mit sich bringt, zu erleichtern.

Was Wissensehafter und Praktiker für die Arbeitswelt formulierten, gilt in abgewandelter Form für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Para-dieseszustände werden wir bei all unseren Bemühungen sicher nie erreichen, aber vielleicht ein bißchen mehr mündige Bürger.

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