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Alle Tränen sammeln. .

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Die soziale Bilanz der jüngsten Papstreise in der Tagespresse entspricht nicht ganz dem, was in den zahlreichen Papstreden in Lateinamerika wirklich ausgesprochen wurde.

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Die soziale Bilanz der jüngsten Papstreise in der Tagespresse entspricht nicht ganz dem, was in den zahlreichen Papstreden in Lateinamerika wirklich ausgesprochen wurde.

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Die Sensationsmeldungen der Presse über die letzte Papstreise nach Lateinamerika haben ein ungutes Gefühl hinterlassen: Johannes Paul II. habe die Befreiungstheologie verurteilt; er habe von „Dieben und Räubern” gesprochen und er habe die Kirche Lateinamerikas wieder zu ihrer eigentlichen Aufgabe zurückgezwungen: zur Verkündigung des „reinen Evangeliums”.

Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Natürlich hat der Papst vor gewissen Richtungen der Befreiungstheologie gewarnt, hat er die marxistische Gesellschaftsanalyse eindeutig abgelehnt, die den Menschen letztlich „auf seine wirtschaftliche Dimension” reduziert und die Revolution als das einzige Mittel zur Lösung sozialer Konflikte propagiert. Er hat außerdem mit ganzer Eindringlichkeit von der Bekehrung der Herzen und der Kraft der christlichen Versöhnung gesprochen. Aber ist damit ein Auszug der Kirche aus den „Zonen des Elends” eingeleitet?

Es ist auffallend, daß Johannes Paul II. selber eine sehr kritische Gesellschaftsanalyse der besuchten Länder formuliert Er zögert nicht, dafür den Begriff „extreme Klassenunterschiede” zu gebrauchen, d. h. „das schreckliche Mißverhältnis des sehr kleinen Prozentsatzes, der den Wohlstand genießt, gegenüber einem hohen Prozentsatz von Menschen, denen die Güter des Lebens fehlen” (an die Arbeiter in Ciudad Guayana).

Daß das bestehende soziale Elend nicht zuerst darin zu suchen ist, daß etwa die Natur nicht mehr zum Leben hergibt, oder, daß die Menschen selber sich nicht um ihren Lebensunterhalt kümmern, spricht der Papst offen aus: „An der Wurzel dieser Übel der Gesellschaft finden sich gewisse ökonomische, soziale und politische Situationen und Strukturen von manchmal weltweitem Ausmaß, die die Kirche als .soziale Sünden' verurteilt” (an die Arbeiter von Trujillo). Und um Mißverständnisse zu vermeiden, fügt er sofort hinzu: Die Kirche „weiß gleichzeitig, daß dies alles auch Frucht der Anhäufung und Konzentration von vielen persönlichen Sünden ist.”

Aber es bleibt die harte Feststellung: Es bestehen ungerechte wirtschaftliche, soziale und politische Strukturen, die wesentlich für die „unerträgliche Situation” verantwortlich sind.

Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen um die Lösung der Probleme der Dritten Welt steht immer wieder die Frage nach den Mitteln. Johannes Paul II. ist dieser heiklen Frage nicht auagewichen. Der Papst hat auf seiner letzten Reise nach Lateinamerika mit aller Dringlichkeit auf die Bedeutung der Liebe und Versöhnung in der Uberwindung der sozialen Konflikte hingewiesen. Wer das übersehen würde, würde das Evangelium verfälschen.

Aber der gleiche Papst war sich so wie seine Vorgänger darüber im klaren, daß die Liebe allein nicht genügt, sondern daß die Gerechtigkeit unter Umständen erkämpft werden muß. Es ist „ein angestrengtes Bemühen um Gerechtigkeit notwendig, zugunsten eines Wandels der ungerechten Strukturen und zugunsten der

Befreiung des Menschen von jeglicher Sklaverei, die ihn bedroht” (Ansprache in Quito).

In diesem Zusammenhang hat Johannes Paul II. auch keine Schwierigkeit, den Begriff „Kampf” zu gebrauchen, genau so wie ihn schon Pius XI. im Rundschreiben „Quadragesimo anno” gebraucht hat: „Noch einmal wiederhole ich, daß das Christentum den edlen und gerechten Kampf für die Gerechtigkeit auf allen Ebenen anerkennt” (Ansprache in Ayacucho). Dieser Kampf, um wirksam zu sein, muß sich auch der notwendigen Formen der Organisation bedienen.

„Seit der Enzyklika ,Rerum no-varum' Leos XIII. hat die Soziallehre der Kirche die Bedeutung der .Solidarität der Arbeiter' und der .Solidarität mit den Arbeitern' bei der Verteidigung ihrer

Rechte und in dem langen Kampf gegen die Ungerechtigkeiten, denen sie seit Beginn des industriellen Zeitalters ausgesetzt waren, betont. Noch heute ist diese Solidarität unentbehrlich; sie muß in den Gewerkschaften und Berufsorganisationen entsprechenden Ausdruck finden” (an die Arbeiter in Quito).

Eines allerdings lehnt der Papst mit aller Entschiedenheit ab: die Lösung der sozialen Konflikte mit den „Mitteln des Hasses und des Todes”. Auf keinen Fall läßt sich das Verbrechen als Weg der Befreiung rechtfertigen. Die Gewalt bringt unerbittlich neue Formen der Unterdrückung und Versklavung hervor” (Rede in Ayacucho).

Auch darüber wird heute heftig diskutiert. Im Elendsviertel von Guayaquil sagte Johannes Paul II. unmißverständlich: „Der Papst möchte heute zusammen mit Euren Bischöfen noch einmal die bevorzugte Option der Kirche für die Armen wiederholen. Eine Option, die weder ausschließlich ist noch jemand ausschließt... Niemand fühle sich ruhig, solange in Ekuador ein Kind ohne Schule, eine Familie ohne Wohnung, ein Arbeiter ohne Arbeit ist”.

Dieser Einsatz der Kirche, „die Würde des Menschen ganzheitlich zu fördern, ihm zu helfen, die ungerechten Situationen und Strukturen zu verändern” (Ansprache in Piazzu), geschieht „nicht aus politischen Beweggründen, sondern vom Evangelium her” (an die Campesinos in Cuzco).

Es war mehr eine rhetorische Geste, als der Papst beim Abschied vom Elendsviertel in Guayaquil sagte: „Heute will ich alle Eure Tränen sammeln, um sie Christus zu Füßen zu legen.” Es sind auch die Tränen der Kirche Lateinamerikas. Denn der gleiche Johannes Paul II. hatte in seinem Rundschreiben „Redemptor hominis” gesagt: „Der Mensch ist der Weg der Kirche”.

Der Autor ist Dekan der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der päpstlichen Universität Gregoriana in Rom.

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