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„Alles garantiert!“

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Menschenrechte haben in der Sowjetunion Verfassungsrang. Für den Moskauer Professor für Internationales Recht, Anatolij Mowtschan, sind Einzel-Schicksale nicht wichtig.

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Menschenrechte haben in der Sowjetunion Verfassungsrang. Für den Moskauer Professor für Internationales Recht, Anatolij Mowtschan, sind Einzel-Schicksale nicht wichtig.

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Immer wieder kommt der Verweis auf die sowjetische Verfassung. Anatolij Mowtschan, Professor für Internationales Recht und Mitglied der sowjetischen Akademie der Wissenschaften — derzeit als Mitglied der SU-Delegation bei der KSZE in Wien -wird im Gespräch mit der FURCHE nicht müde, die Verteidigung der Menschenrechte als „grundsätzliches Prinzip unserer Verfassung“ darzustellen. Nur bei der Frage, was er denn eigentlich unter Menschenrechten verstehe, wird er unsicher und reagiert mit einer entsprechenden Gegenfrage.

Und dann vergleicht er gesetzliche Garantien in der Sowjetunion für ein Recht auf Arbeit, für soziale Unterstützung, Arbeitslosenhilfe, für medizinische Betreuung und für eine Teilnahme am kulturellen Leben mit den „bei euch im Westen so wichtigen Fragen nach Einreise- und Ausreiseerlaubnis und nach Religionsfreiheit“. Mowtschan kann nicht verstehen, daß der Westen wirtschaftliche Aspekte nicht in die Menschenrechte miteinbezieht.

Und überhaupt ist für den Juristen klar, daß auch in der Men-schenrechtsfrage Prioritäten eine entscheidende Rolle spielen: „Wenn Krieg wäre, könnten wir dann über Menschenrechte sprechen? Das geht nur im Zustand des Friedens.“ Menschenrechte, sind ein „untrennbarer Faktor des Friedens“, betont Mowtschan.

Deshalb ist es für das sowjetische Akademiemitglied eine Ungeheuerlichkeit, Menschenrechte für politische Spekulationen und für Verleumdungen zu benützen, „die sogar gegen mein Land gerichtet sind“. Hier kommt der Hinweis auf jene Demonstrationen in Wien, die zurzeit - in der Anlaufphase der 3. KSZE-Folgekonferenz - unter Aufzählung endlos scheinender Menschenrechtsverletzungen in der UdSSR die Weltöffentlichkeit auf Einzelschicksale aufmerksam machen wollen.

Demgegenüber sind für Mowtschan die Prinzipien Recht auf Leben, Kampf gegen Mord, gegen Apartheid und gegen Kriegspropaganda wichtig. Das Akademiemitglied verkündet stolz, daß die sowjetische Gesetzgebung hinsichtlich der Menschenrechte den Normen internationaler Dokumente entspreche. „Das wurde uns vom Internationalen Komitee für Menschenrechte - Experten, die nicht Vertreter von Staaten sind — auch bestätigt. Wo gibt es noch gesetzliche Garantien über die Gleichberechtigung von Mann und Frau, wo noch das Verbot, Kriegspropaganda zu betreiben? Bei uns ist das alles garantiert!“

Deshalb haben nach den Worten Anatolij Mowtschans Vertreter der Sowjetunion auch „nie Schwierigkeiten, wenn wir uns an Diskussionen über die Verteidigung der Menschenrechte beteiligen“.

Und die Freizügigkeit beim Reisen, das Problem mit der Religionsausübung? „Jeder Fall“ - betont Mowtschan im Zusammenhang mit Ausreiseanträgen — „wird bei uns sehr genau bearbeitet“. Denn es gehe schließlich um Geheimnisträger, um mit neuen Technologien Beschäftigte, um Leute, die in der Waffenproduktion tätig waren — „oder um Söhne, die noch alte Eltern haben, sie allein lassen wollen, sodaß sie hilflos sind“. So. gesehen seien

„Wenn Priester aus ihrem Meßbuch lesen, dann ist das religiöse Propaganda“

Ausreiseanträge keine leichte Angelegenheit.

Auch die Behandlung von Gläubigen in der Sowjetunion stellt für den Vertreter der Moskauer Akademie der Wissenschaften kein allzu großes Problem dar. Es gebe tausende religiöse Gemeinschaften mit Kommunikationsorganen, „die zu Tausenden bei uns verbreitet werden“. Zudem dürften gläubige Menschen in der Sowjetunion Kirchen und kirchliche Gebäude „unentgeltlich benützen“.

Predigen in der Kirche - und nur dort ist es in der UdSSR erlaubt — stellt für Mowtschan „eine Art religiöse Propaganda“ dar. „Im Westen wird behauptet, wir gestatteten nur atheistische Propaganda. Verzeihen Sie, bitte, in jeder Kirche wird die Messe gefeiert, und jeder Priester liest aus dem Meßbuch — was ist das anderes als religiöse Propaganda?“

Jugendliche in der Sowjetunion haben — wie Mowtschan meint — heute eine andere Einstellung zur Religion als ihre Eltern. „Jeder Mensch soll selbst entscheiden, ob er glauben will — wie es in der Bibel steht. Dieses Recht sollte man auch beachten.“

Und doch gibt es Dissidenten, Menschen, die aus religiösen oder politischen Gründen in der Sowjetunion schwersten Repressionen ausgesetzt sind, von denen einige wenige nach Interventionen aus dem Ausland abgeschoben werden. Wirft diese Behandlung von Dissidenten nicht ein äußerst schlechtes Licht auf die Sowjetunion? Mowtschan meint, daß der Begriff Dissident im Westen nur dazu benutzt werde, um die Menschenrechte verleumderischen Zwecken dienstbar zu machen.

In der Sowjetunion habe jedermann das Recht „auf freies Denken“. „Werden aber Gedanken in die Tat umgesetzt“ — so Mowtschan wörtlich — „und zu verleumderischen Zwecken verwendet, dann müssen wir gegen die Verleumder auftreten.“ Aber niemand habe etwas gegen berechtigte Kritik. „Wer etwas dagegen unternimmt, kann bestraft werden.“

An Kritiker - so auch am Institut Mowtschans — trete man mit der Aufforderung heran, „bei uns zu bleiben und mit uns an der Verbesserung der Lage zu arbeiten“. Paradiese gebe es nirgends. „Wenn uns jemand auf Mißstände aufmerksam macht, sagen wir o. k., helfen Sie uns, diese abzustellen.“

Das- so das sowjetische Akademiemitglied — sei wichtiger, als sich auf Andrej Sacharow zu konzentrieren. „Einzelpersonen sind nicht so wichtig. Heute Juri Or-low, gestern Alexander Solsche-nyzin, morgen ist es ein anderer. Aber es gibt 300 Millionen Sowjetbürger. Da sollte man eine Einzelstimme nicht überbewerten!“

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