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In Italien stehen die sechsten Parlamentswahlen der Nachkriegszeit unter einem völlig neuen Vorzeichen. Zogen bisher die Regierungsparteien gleichsam mit einem strategischen Feldherrnplan auf lange Sicht in den Kampf um die fast tausend Sitze im Abgeordnetenhaus und im Senat, so liefern sie jetzt nur taktische Gefechte mit offenem Ausgang für die spätere Zusammensetzung der Regierung. Je nach Ausgang dieser Konsultation wird nach dem 7. Mai in Rom ein mehr oder minder nach rechts oder links geöffnetes Kabinett gebildet oder auf Abruf das bestehende Ministerium Andreotti bestätigt werden.

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In Italien stehen die sechsten Parlamentswahlen der Nachkriegszeit unter einem völlig neuen Vorzeichen. Zogen bisher die Regierungsparteien gleichsam mit einem strategischen Feldherrnplan auf lange Sicht in den Kampf um die fast tausend Sitze im Abgeordnetenhaus und im Senat, so liefern sie jetzt nur taktische Gefechte mit offenem Ausgang für die spätere Zusammensetzung der Regierung. Je nach Ausgang dieser Konsultation wird nach dem 7. Mai in Rom ein mehr oder minder nach rechts oder links geöffnetes Kabinett gebildet oder auf Abruf das bestehende Ministerium Andreotti bestätigt werden.

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Vor neun Jahren, bei der vorletzten Auseinandersetzung, empfahlen sich Christdemokraten, Sozialdemokraten, Republikaner und Linkssozialisten den Wählern als unbeirrbare . Befürworter des Regierungskurses links von der Mitte (Centro sinistra), nachdem zuvor die Derho-crazia Cristiana während 15 Jahren allein, oder im Verein mit den Liberalen, Sozialdemokraten und Republikanern, nach De Gasperis Vorbild Zentrumskabinette gebildet hatte.

Das italienische Elektorat belohnte die zunächst von Fanfani, dann von Moro mit Elan und viel gutem Willen und nicht ohne Idealismus verfolgte Linksöffnung (apertura a sinistra) um so mehr, als anderswo ähnliche politische Neuorientierungen —, New Deal in den USA, „Sozialdemokratisierung“ der skandinavischen Länder, von Erfolg gekrönt waren. Die 33 Millionen italienischen Wähler und Wählerinnen brachten auch die für ein solches politisches Experiment erforderliche Geduld auf: Nach fünfjähriger Koalition bescherten sie den vier Parteien links von der Mitte nochmals eine gewichtige Mehrheit von 952 Sitzen in den beiden Kammern des italienischen Parlaments.

Die Königsmacher

Den größten und auffallendsten Racheakt gegen diese „Konditionierung von links außen“ und faktische Abhängigkeit der Links-Mitte-Kabinette Rumor und Colombo von der wohlwollenden Unterstützung der Kommunisten stellten aber schon die letzten Präsidentschaftswahlen dar. In den Sattel gehoben wurde nicht mehr, wie Ende 1964, ein Kandidat der politischen Linken — Giuseppe Saragat — dem nach 20 vergeblichen Wahlgängen die 243 Stimmen der KPI zugute kamen, sondern der damals Unterlegene Giovanni Leone, ein Exponent der demokratischen Mitte, der den Liberalen, Sozialdemokraten und Republikanern näher steht als den resoluten Marxhörigen Linkssozialisten, die mit ihrer Politik des fortgeschrittenen Gleichgewichts die Aufnahme der KPI in die Regierung zunächst geheim und schließlich immer offener propagierten. Gaben am 28. Dezember 1964 die Kommunisten den Ausschlag für den Einzug Saragats auf dem Quirinal, so waren es diesmal die Neofaschisten. Daß Giorgio Almirante, Generalsekretär des Movimento Sociale Italiano (die Neofaschistische Partei), im jetzigen Wahlkampf vor aller Welt Kapital aus dieser entscheidenden Beihilfe seiner „italienischen Sozialbewegung“ schlägt, versteht sich von selbst. Zu den „Königsmachern“ zu gehören und den Anhang wirksam einsetzen zu können, ist noch immer ein guter Wahlschlager gewesen.

Nicht schlechter als Kommunisten

Aus Angst, am 7. Mai noch mehr Stimmen an die Neofaschisten zu verlieren, als es am 13. Juni 1971, dem Tag des letzten größeren Urnengangs der Gemeinde-, Provinz- und siziliahischen Regionalwahlen bereits geschehen ist, empfiehlt sich die Democrazia Cristiana als Bollwerk gegen den fortschreitenden Kommunismus. In den christdemokratischen Wahlparolen wird die KPI als totalitäre Partei bezeichnet — mit Generalsekretär Forlanis Worten „um kein Haar besser als die Rechtsextremisten“. Die italienische Mehrheitspartei ist nicht mehr die Wortführerin des Kurses links von der Mitte, sondern eine Zentrumspartei.

Wie vor 24 Jahren stehen auch bei diesem entscheidenden Wahlgang die 300 Vertreter der italienischen Bischofskonferenz ziemlich geschlossen hinter der Democrazia Cristiana, die einmal mehr, im Bewußtsein der öffentlichen Meinung, die Partei der Katholiken, nicht nur — nach De Gasperis Maxime — eine Partei von Katholiken ist. Eine solche Rückendeckung fällt dem Klerus um so leichter, als die Democrazia Cristiana in der Ehescheidungsfrage die Direktiven des Heiligen Stuhls befolgt, das Referendum zur Abschaffung des am 1. Dezember eingeführten Scheidungsgesetzes unterstützt und lieber den bisherigen Regierungskurs aufs Spiel setzt, als in dieser für die Katholiken ausschlaggebenden Frage nachzugeben.

Daß sich die Democrazia Cristiana nach dem Versagen der Linksöffnung dem Elektorat wenigstens fünf Minuten vor zwölf als Partei der Mitte und der Kirche darstellt, mag dem Vormarsch der Neofaschisten einen Riegel vorgeschoben haben und verhüten, daß das MSI am 7. Mai die 10-Prozent-Hürde überschreitet. Wenn auch den Neofaschisten dadurch der Übergang von einer Mini- zu einer Maxipartei kaum gelingen wird, wäre eine Verdoppelung ihres Anhangs dennoch von großer psychologischer Bedeutung.

Die Democrazia Cristiana könnte sich genötigt sehen, nach de Gasperis Vorbild wenigstens mit den Liberalen eine Zentrumskoalition einzugehen, nach zehnjähriger Allianz den Linkssozialisten die Zusammenarbeit auf Parlaments- und Regierungsebene zu kündigen und damit den Centro-Sinistra-Kurs endgültig zu Grabe zu tragen. Der Stimmengewinn der Neofaschisten müßte um so stärker ins Gewicht fallen, wenn der Anhang der anderen Parteien stationär bliebe oder wenn die KPI einen Teil ihrer bisherigen 8-Millionen-Gefolgschaft an die linksextremistische (maoistische) Manifesto-Gruppe und an die Linkssozialisten einbüßte.

Kommt es, wie viele glauben, am 7. Mai zu einem Rechtsrutsch in Italien, so ist es aber auch, und nicht zuletzt, das Verdienst Giorgio Almirantes, der es im Wahlkampf meisterhaft verstanden hat, mit dem Einsatz aller Mittel Kapital aus den Unzulänglichkeiten der bisherigen Regierungsführung links von der Mitte für seine zum nationalen Rechtsblock zusammengeschlossenen Parteien zu schlagen und mit seinem gewinnenden Wesen und der gelegentlich mitreißenden Ironie und Schlagfertigkeit eine besondere Faszination auf das zarte Geschlecht — die Mehrheit des italienischen Elektorats — und nicht wenige Intellektuelle ausübt.

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